Verbrechen an Minderheiten in Syrien und im Libanon

Sabine Kebir im Gespräch mit Pfarrer Fuchs (Christian Solidarity International)

Nach der ersten Begeisterung über den Fall des Assad-Regimes hat sich schnell große Ernüchterung breitgemacht. Seit der Machtergreifung des neuen Diktators Ahmed al-Scharaa kommt es regelmäßig zu Einschüchterungsversuchen dschihadistischer Gruppen gegenüber nicht-sunnitischen Bevölkerungsteilen.

2. August 2025
Verbrechen an Minderheiten in Syrien und im Libanon
Lesezeit: ca. 7 Minuten

  • Herr Fuchs, Sie sind Geschäftsführer der Hilfsorganisation Christian Solidarity International und halten sich in dieser Funktion auch oft im Nahen Osten auf. Was stellt sich CSI für Aufgaben?

Christian Solidarity International ist eine christliche Menschenrechtsorganisation für Religionsfreiheit und Menschenwürde. Sie wurde 1977 gegründet und ist derzeit in 16 Projektländern aktiv. In Afrika, Asien, Mittelamerika und dem Nahen Osten setzen wir uns aus einem christlichen Antrieb heraus durch Advocacy-Arbeit und humanitäre Hilfe für Verfolgte und Notleidende ein. Zu unseren herausragenden Projekten gehören die Befreiungsaktionen für Sklaven im Sudan, die Verteidigung des Rückkehrrechts der von Aserbaidschan 2023 aus Bergkarabach vertriebenen Armenier, die juristische Hilfe für Opfer der Blasphemiegesetzgebung in Pakistan und auch Nigeria sowie die Unterstützung der religiösen Minderheiten in Syrien, insbesondere der einheimischen Christen, denn Syrien gilt als die Wiege der Christenheit und hat somit eine besondere Bedeutung für uns.

  • Welche Bedeutung messen Sie den wenigen in Syrien verbliebenen Christen denn zu?

Vor Beginn des Syrienkrieges waren noch etwa zehn Prozent der syrischen Bevölkerung Christen, knapp 2 Millionen. Die aktuellen Zahlen kennt niemand. Schätzungen gehen aber von verbliebenen 300.000 bis 500.000 Christen aus. Die Zahl ist gering, da haben Sie Recht, aber diese Menschen verwalten ein wertvolles lebendiges Erbe. Der Ursprung des Christentums liegt nicht nur in Jerusalem; das Christentum hat sich auch von Damaskus und Antiochien, wo die Anhänger Jesu erstmals Christen genannt wurden, ausgebreitet. Wir wissen, dass es schon zu Lebzeiten des Völkerapostels Paulus eine christliche Gemeinde in Syrien gab. Seitdem hat das syrische Christentum mit seinen herausragenden Theologen und Aszeten großen Einfluss auf die Entwicklung christlicher Lehre und Praxis in Ost und West genommen. Insbesondere in Indien ist die syrisch-aramäische Tradition und Liturgie heute sehr präsent. Dazu kommt, dass das syrische Christentum immer eine besondere Brückenfunktion zum Islam hatte.

  • Sie waren auch während der Kriegsjahre oft in Syrien und stehen auch jetzt in ständigem Kontakt mit dortigen christlichen Zentren. Was hat sich seit der Machtüberahme durch die Milizen von Hayat Tahrir al-Sham dort für die nichtsunnitischen Minderheiten wie Alawiten, Drusen, und Christen verändert?

Nach der ersten Begeisterung über den Fall des Assad-Regimes hat sich schnell große Ernüchterung breitgemacht. Seit der Machtergreifung des neuen Diktators Ahmed al-Scharaa kommt es regelmäßig zu Einschüchterungsversuchen dschihadistischer Gruppen gegenüber nicht-sunnitischen Bevölkerungsteilen. Unsere Partner vor Ort berichten von Autos mit Lautsprechern auf dem Dach, die durch Städte und Dörfer fahren und zum Übertritt zum Islam aufrufen. In staatlichen Schulen werden Mädchen jetzt aufgefordert, das islamische Kopftuch zu tragen. Dabei muss man wissen, dass in Syrien bisher auch viele muslimische Frauen ohne Kopftuch unterwegs waren. An Schulen und Universitäten werden plötzlich Frauen und Männer getrennt unterrichtet. Das ist in Syrien nie üblich gewesen.

In staatlichen Schulen werden Kinder neuerdings angehalten, Suren aus dem Koran zu rezitieren. Ich kenne Christen, die ihre Kinder deshalb aus der Schule genommen haben.

Dazu kommt, dass dschihadistische Patrouillen – selbst in den Millionenstädten Aleppo und Damaskus – auf den Straßen unverheiratete Männer und Frauen trennen, junge Männer schlagen, wenn sie kurze Hosen tragen und Restaurantbesucher auffordern, keinen Alkohol zu trinken, denn das sei alles unislamisch.

  • Am 22. Juli kam es zu einem Selbstmordanschlag in einer christlichen Kirche in Damaskus. Nachdem der Attentäter zunächst auf mehrere Personen geschossen hatte, zündete er einen Sprengsatz. Insgesamt wurden 25 Menschen getötet. Genaueres hat man hier kaum erfahren.

Der verheerende Selbstmordanschlag auf die griechisch-orthodoxe Mar-Elias-Kirche in Damaskus mit 25 Toten und über 60 Verletzten wurde nach Angaben der syrischen Regierung von einem Terroristen des IS verübt. Allerdings hat sich eine andere Gruppe, „Saraya Ansar al-Sunna“, zu dem Attentat bekannt. Saraya Ansar al-Sunna ist eine Splittergruppe der Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die früher von Präsident al-Sharaa angeführt wurde. Die Gruppe erklärte, der Anschlag sei eine Vergeltungsmaßnahme gegen Christen, die gegen Muslime protestierten, als diese sie zum Islam bekehren wollten.

Nach offiziellen Angaben wurden in Zusammenhang mit dem Attentat sechs Personen verhaftet, darunter ein Iraker, der aus dem Gefangenenlager al-Hol ausgebrochen sei.

  • Wie haben die christlichen Gemeinden und die anderen zur Zeit bedrängten Religionsgemeinschaften reagiert?

Nach den genozidhaften Ausschreitungen gegen die alawitische Minderheit an der Küste im März und den Angriffen gegen Drusen in Damaskus und dem Süden Ende April fürchteten viele Christen, dass sie die nächsten Opfer der herrschenden Dschihadisten werden würden. Das Selbstmordattentat gegen die im von Handwerkern und Arbeitern bewohnten Stadtviertel Dweila liegende St.-Elias-Kirche sendet nun eine unmissverständliche Drohbotschaft an die Christen Syriens, die man in folgende Worte fassen könnte: „Ihr seid nirgendwo sicher. Verlasst das Land, solange ihr noch könnt.“ Dabei muss man bedenken, dass die Kirche nur wenige hundert Meter vom christlichen Altstadtviertel von Damaskus und in unmittelbarer Nähe zu einem christlichen Pilgerort liegt. Eine junge Mutter aus Damaskus sagte mir direkt nach dem Attentat: „Wir sind schutzlos. Es bleibt uns keine andere Lösung mehr – wir Christen müssen auswandern. Europa muss uns helfen, alle rauszuholen, sonst werden noch mehr Menschen sterben.“

  • Gibt es überhaupt Untersuchungen der Verfolgungen von Alawiten, Drusen und Christen? Sind Ergebnisse und Bestrafungen bekannt?

Ahmed al-Scharaa hat gesagt, dass seine Regierung die Massaker an den Alawiten mit vermutlich 4000 getöteten Zivilisten aufklären und die Täter bestrafen wird. Aber die Minderheiten Syriens glauben ihm kein Wort. Sie wissen, dass die Massaker an den Alawiten und die Gewaltausbrüche gegen die Drusen unter Mitwirkung von al-Scharaas Sicherheitskräften begangen wurden und erinnern sich nur zu gut an den Schlachtruf der von al-Scharaa 2012 gegründeten al-Nusra-Front: „Christen nach Beirut, Alawiten ins Grab!“

Christian Solidarity International fordert deshalb die seriöse Aufarbeitung der jüngsten religiösen Gewalt gegen die Minderheiten Syriens durch die UN. Natürlich muss sich der Westen auch für die vom neuen Regime in Damaskus Verfolgten einsetzen. Ich denke insbesondere an Suleiman Khalil, den früheren Bürgermeisters von Sadad, einer mehrheitlich von Christen bewohnten Stadt südöstlich von Homs. 2015 organisierte Khalil die erfolgreiche Verteidigung seiner Stadt gegen den IS, was ihm große Anerkennung einbrachte. Weil er aber nicht der Baath-Partei angehörte, wurde er vom Assad-Regime absetzt. Am 8. Februar wurde Khalil schließlich von Sicherheitskräften al-Scharaas verhaftet. Beobachter sehen in der Inhaftierung einen späten Racheakt von IS-nahen Kräften innerhalb des neuen Regimes.

  • Welche tieferen Ursachen haben die Verfolgungen von religiösen Minderheiten? Sollen sie sich zum sunnitischen Islam bekehren? Kann es dem syrischen Übergangspräsidenten gelingen, den Religionsfrieden zu garantieren?

Wenn man die anhaltende Verfolgung der Alawiten lediglich als Rache für ihre dominierende Stellung im System Assads erklärte, würde man zu kurz greifen. Seit Jahrhunderten gelten Alawiten dem sunnitischen Islam als Abtrünnige, Apostaten (Murtadd). Fatwas des sunnitischen Gelehrten Ibn Taimiya aus dem 14. Jahrhundert bestimmen, dass Alawiten ungläubiger als Christen und Juden seien und dass man sich ihr Eigentum aneignen und ihr Blut vergießen dürfe. Diese Fatwas waren unter Assad verboten, wurden aber in der von Ahmed al-Scharaas HTS kontrollierten Provinz Idlib neu aufgelegt und an Theologen verteilt. Die Folge haben wir im März gesehen. Dschihadisten drangen in den alawitischen Gegenden am Mittelmeer in Tausende Häuser ein und fragten die Bewohner, ob sie Alawiten seien. Wenn die Bewohner das bejahten, wurden sie erschossen und ihr Eigentum geplündert. Übrigens geht man davon aus, dass bei diesen Ausschreitungen über 50 alawitische Mädchen und Frauen entführt wurden. Sie wurden weiterverkauft oder mit Sunniten zwangsverheiratet. Das alles nur, weil sie alawitischen Glaubens sind!

Das Regime von Ahmed al-Scharaa ist jedenfalls nicht fähig und gewillt, sie zu schützen.

  • Sie sind bis Ende Mai längere Zeit im Libanon gewesen. Das kleine Land durchlebt bereits seit Jahren eine tiefgehende wirtschaftliche und politische Krise und wird seit Jahrzehnten zusätzlich zur Zuflucht von verschiedenen Gruppen von Flüchtlingen. Im letzten Monat sollen allein 40 000 Alawiten in den Libanon geflüchtet sein. Flüchten auch Christen dorthin?

In den vergangenen Jahren haben die Menschen Syrien insbesondere aufgrund der erdrückenden Armut verlassen, die wesentlich von den erst jüngst aufgehobenen Wirtschaftssanktionen von USA und EU verursacht wurde. CSI hat sich jahrelang für ein Ende dieser Sanktionen, die auf die Zivilbevölkerung wie Massenvernichtungswaffen wirkten, eingesetzt. Auch die Angst vor dem unter Assad obligatorischen achtjährigen Militärdienst führte dazu, dass viele junge Männer Syrien den Rücken kehrten. Heute flüchten Angehörige der syrischen Minderheiten, weil sie eine Islamisierung ihrer Heimat, hin zu einem sunnitischen Gottesstaat beobachten – die neue Übergangsverfassung lässt keinen Zweifel daran. Viele Christen wünschen sich Aufnahmeprogramme des Westens. Der jüngste Anschlag auf die Elias-Kirche in Damaskus hat dazu geführt, dass jetzt buchstäblich jeder Christ Syrien auf dem schnellsten Wege verlassen will.

  • Wie haben Sie die allgemeine Lage dort erlebt –nach den schweren Kämpfen mit Israel, den Zerstörungen und mit der enormen Belastung durch neue Flüchtlingsströme?

Der Libanon ist schwer gezeichnet vom jüngsten Krieg zwischen Hisbollah und Israel. In Beirut, im Süden und in der Bekaa-Ebene sind die Zerstörungen unübersehbar. In Baalbek hat das israelische Militär in unmittelbarer Nähe des UNESCO-Weltkulturerbes bombardiert.

Die Menschen haben Häuser und Verwandte verloren und Kinder leiden unter Traumata aufgrund des gruseligen Lärms der israelischen Drohnen. Viele sind zudem das dominante Auftreten der Hisbollah innerhalb der libanesischen Politik leid. Alle leiden unter der desaströsen wirtschaftlichen Situation des Libanon. Ich kenne Lehrerinnen, Polizisten und Soldaten, die zusätzlich noch zwei oder drei Nebenjobs haben, um ihre Familien ernähren zu können. Entsprechend herrscht im Libanon auch kein besonderes Wohlwollen gegenüber den Flüchtlingen aus Syrien mehr.

  • Im Libanon wurde jahrzehntelang um eine gerechte Machtverteilung zwischen Christen und Muslimen gerungen. Da es auch noch eingesessene Minderheiten wie z. B. Drusen gibt, hatten auch sie ein Interesse am Religionsfrieden. Wie sieht die Lage für die verschiedenen Gruppen heute aus? Bekannt ist, dass vor allem viele Christen den Libanon verlassen haben.

Es ist wesentlich die wirtschaftliche Not, die die meist gut ausgebildeten Christen aus dem Libanon treibt. Viele gehen nach Saudi-Arabien oder in die Vereinigten Arabischen Emirate, um dort zu arbeiten. Mit einem Teil ihres Lohns unterstützen sie ihre Eltern und Verwandten im Libanon.

  • Gibt es eine Zukunft für den multireligiösen Nahen Osten?

Ich habe schon erwähnt, dass das syrische Christentum immer eine besondere Brückenfunktion zum Islam hatte und in den multireligiösen Gesellschaften des Nahen Ostens als verbindender Faktor wirkte. Der Kontakt zwischen einheimischen Christen und Muslimen führte zu Dialog, Verständigung und einem erfolgreichen Aufbau der Gesellschaft. Syrien war das Modell für ein fruchtbares Zusammenleben in einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft. Die säkulare Ideologie der Baath-Partei war da sehr hilfreich.

Doch Syrien hat sich seit Kriegsbeginn 2011 verändert. Wie soll christlich-muslimischer Dialog funktionieren, wenn sich einheimische Christen und Muslime gar nicht mehr begegnen? In Syrien leben heute Jugendliche, die noch niemals einem Christen oder Alawiten begegnet sind und in den vergangenen Jahren von islamistischen Scharfmachern – Tschetschenen, Uiguren, Irakern, Pakistanern – gelernt haben, dass nur Sunniten gut seien und dass Syrien immer muslimisch gewesen sei. Ich denke, dass das neue Regime in Damaskus gerade kein multireligiöses Syrien will.

In Bezug auf den Libanon bin ich dagegen optimistisch. Dort ist die politische Ausgangslage weiterhin auf eine multireligiöse Gesellschaft ausgerichtet. Eine vom Westen unterstützte wirtschaftliche Erholung würde gewiss zu einer neuen Blüte des multireligiösen Zedernstaates führen.


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Personen: Peter Fuchs, Sabine Kebir


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