Der griechische Politiker und Widerstandskämpfer Manolis Glezos über die Verbrechen der Wehrmacht, die Haltung der deutschen Bundesregierung und die Wahlen an diesem Sonntag in Griechenland.
Der 92-jährige Manolis Glezos wurde auf der griechischen Insel Naxos geboren, er ist Europaabgeordneter der Linkspartei SYRIZA und derzeit ältestes Mitglied des Europaparlaments.
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weltnetz.tv: Herr Glezos, wenn die deutsche Regierung am 3. Oktober die Wiedervereinigung feiern lässt, trauern die Menschen in Griechenland. Denn der 3. Oktober steht dort für die Massaker der Wehrmacht im Bergdorf Ligiades. Es gibt heute in Griechenland neunzig sogenannter Märtyrerdörfer, die von den deutschen Besatzern niedergebrannt und deren Bewohner ermordet wurden. Nun war der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck als erster deutscher Staatsvertreter 2014 in Ligiades und hat dort um Verzeihung für die Verbrechen der Wehrmacht gebeten. Hat sich den seither etwas getan in Richtung Entschädigung und Wiedergutmachung?
Manolis Glezos: Vorerst möchte ich festhalten, dass das deutsche Volk heute keine Verantwortung für die Verbrechen des Dritten Reiches trägt. Vergleichen Sie es mit einem Kind, dessen Vater ein Mörder ist. Trägt hier das Kind Schuld? Aus demselben Grund habe ich tausend Mal betont, dass das deutsche Volk keine Verantwortung für die Gewalttaten des Dritten Reiches trägt. Die Thematik ist eine andere. Es geht um die Frage, warum die heutigen Regierungen Deutschlands die Taten des Dritten Reiches nicht zugeben.
weltnetz.tv: Das wäre auch meine Frage gewesen: Sind denn bisher überhaupt Täter vor Gericht gestellt oder bestraft worden?
Manolis Glezos: Ja, das hat es gegeben. Einige von ihnen haben in Griechenland vor Gericht gestanden. Aber viele andere wurden damals im Zusammenhang mit dem Fall Merten, nach Übereinkunft mit der griechischen Regierung, vor deutsche Gerichte gestellt. In Deutschland ist man zwar diesen Fällen gerichtlich nachgegangen. Man warf den Angeklagten Verbrechen in Griechenland vor. Aber sie antworteten: „Ich habe stets Anordnungen und Befehle meiner Obersten befolgt.“ Das Urteil hieß dann in der Regel: „Der Angeklagte wird freigesprochen.“ Dementsprechend folgte keine einzige Verurteilung in Deutschland.
Aber wir müssen den Tatsachen auf den Grund gehen: Deutsche Militäreinheiten hatten unser Land besetzt. Im Grunde fangen die Probleme ab diesem Punkt an. Denn gemäß des bis heute geltenden Völkerrechts ist kein Land, das ein anderes im Krieg angreift, zur Wiedergutmachung oder Entschädigung verpflichtet. Gemäß des geltenden Kriegsrechts – und so war es bisher – darf der Sieger alles, was in Verbindung mit Waffen, Rüstungsfabrikation und Waffenkammern steht an sich nehmen. Darum geht es uns aber noch nicht einmal. Wir sprechen von etwas anderem: und zwar davon, dass dem deutschen Militär ein Stab von Wirtschaftswissenschaftlern folgte, die umgehend Maßnahmen gegen das griechische Volk verhängten. Es handelt sich um eine Vielzahl von Maßnahmen, die dem Volk aufgezwungen wurden. Ich habe ein Buch über dieses Thema verfaßt. Der deutsche Bundespräsident, Joachim Gauck, berichtete mir, er habe es gelesen.
weltnetz.tv: Herr Glezos, das Thema der Wiedergutmachung könnte ja bald wieder auf der politischen Agenda stehen, wenn am Sonntag ihre Partei, die Linkspartei SYRIZA, die Wahlen gewinnt. Worum geht es? Wie soll dieses Thema wieder auf die politische Agenda gesetzt werden.
Manolis Glezos: Auf dieses Thema beziehe ich mich unabhängig von den Wahlen. Es geht um etwas Wesentliches. Deutschland und Griechenland haben bisher offiziell keinen Friedensvertrag abgeschlossen. Lediglich ein Waffenstillstand wurde vereinbart. Weshalb? Weil die deutsche Regierung weiß, dass sie gezwungen sein wird, Griechenland sämtliche Schulden zu erstatten, sobald ein Friedensabkommen unterzeichnet ist. Und zwar unabhängig davon, ob Griechenland es einfordert oder ob Griechenland es nicht einfordert. Deshalb lautet für mich die einzig wichtige Forderung, wie folgt: Sowohl unter der Regierung von SYRIZA sowie auch unter jeder anderen Regierung, muss die Unterzeichnung eines Friedensvertrages zwischen Deutschland und Griechenland erfolgen.
weltnetz.tv: Und deswegen auch die Debatte über den Schuldenschnitt. Es gibt ja die Londoner Schuldenkonferenz von 1953. Deutschland wurden die Schulden erlassen. Wie geht es nun mit Griechenland weiter? Wie wollen Sie auch das durchsetzen?
Das ist ein anderes Thema. Es hat nichts mit dem Vorherigen zu tun. Auf das vorhin erwähnte Problem bin ich ausführlich eingegangen und ich denke, es ist lösbar. Allerdings erst, wenn ein Friedensvertrag abgeschlossen wird. Und ganz unabhängig davon, wer an der Regierung ist.
Das zweite Thema ist der riesige Schuldenberg, dem Griechenland gegenübersteht. Unserer Meinung nach sollte das Schuldenproblem ebenso gelöst werden, wie es 1953 mit der Schuldenentlastung Deutschlands der Fall war. Wir fordern nichts weiter als das. Das Problem sollte heute auf die gleiche Art und Weise lösbar sein, wie es damals auch geschah. Außerdem hatte Griechenland damals ebenfalls zur Lösung beigetragen.
weltnetz.tv: Herr Glezos, wenn wir jetzt hier in Berlin auf die Straßen gehen und mit den Deutschen heute sprechen, würden viele sagen: „Ach, das ist doch lange her. Wir haben heute nichts mehr damit zu tun. Warum sollen wir heute etwas zahlen? Warum sollen wir heute Schulden erlassen?“ Was würden Sie diesen Menschen antworten?
Manolis Glezos: Ich bin gestern mit dem Auto aus Brüssel nach Berlin gefahren, vorbei an Hannover. Vor zwanzig Jahren, 1995, wurde ich von Freunden aus Deutschland dorthin eingeladen, um über Fragen der Ökologie, der Umwelt und andere Themen zu diskutieren. Meine Freunde fragten mich, was ich noch zu besprechen wünschte. Ich bat um ein Gespräch über das Thema der Schulden Deutschlands an Griechenland. Einen ganzen Abend lang diskutierten wir darüber. Zum ersten Mal wurden Deutsche – es war ein deutsches Publikum – mit diesem Thema, das ich ansprach, konfrontiert. Das hat dermaßen viel Aufsehen erregt, so dass ich, zurück in meinem Heimatort Aperathos, einem Bergdorf auf Naxos, von der Redaktion der Zeitung Die Zeit telefonisch dazu gebeten wurde, einen Artikel über dieses Thema zu schreiben. Sie wollten meine Rede schriftlich haben.
Ich habe den Artikel geschrieben, jedoch ohne Titel. Den Titel hatte die Redaktion ergänzt. Er hieß: „Ein Unrecht muß gesühnt werden.“ In dem Text versicherte ich, dass wir Griechen keinerlei Feindseligkeit gegenüber dem deutschen Volk verspüren; dass wir die deutsch-griechische Freundschaft vertiefen wollen.
Genau das beweist auch meine Aussage: Würden wir Griechen nämlich Hass gegenüber den Deutschen verspüren, hätte ich nicht folgenden Vorschlag gemacht: Dass Deutschland als Ausgleich der Kriegsschulden beispielsweise Schülern, Studenten und jungen Wissenschaftlern aus Griechenland Stipendien in der Bundesrepublik gewährt. Ähnliche Vorschläge können sie auch in der Zeit nachlesen. Es müßte die Ausgabe von Juli 1995 sein, das weiß ich nicht mehr so genau. Dort können sie alles nachlesen, es ist dort veröffentlicht. Solche Vorschläge habe ich gemacht. Und ich betone, dass diese Vorschläge – es sind Vorschläge von mir persönlich – Deutschland nicht so in Bedrängnis bringen würde, wie wir heute in Bedrängnis gekommen sind. Das ist der große Unterschied. Wir wollen Deutschland nicht an den Pranger stellen. Wir können die Lösungen gemeinsam finden.
Was für Lösungen können das sein? Da wäre das Problem mit den Zinens. Hier müssen wir möglichst niedrige Zinssätze vereinbaren. Das ist meine persönliche Meinung. Ich glaube, jede griechische Regierung wird einen Weg finden, Griechenlands Ansprüche zu sichern.
Eigentlich geht es um die Frage der Moral. Darüber habe ich auch ein Buch geschrieben. Selbst wenn es sich nur um eine Deutsche Mark handelte, Deutschland ist verpflichtet, sie zu erstatten. Denn die Moral steht über allem.
Und nicht das deutsche Volk soll bezahlen, sondern die deutschen Firmen, die aus der Besatzung einen Nutzen gezogen und das griechische Volk ausplündert haben. Das deutsche Volk braucht nicht dafür aufkommen. Die Firmen sollen alle Reparationen zahlen. Die Ansprüche sind nicht sehr hoch. Wissen Sie, um wieviel Geld es sich handelt? Abgeordnete der Partei DIE LINKE haben die Summe errechnet. Während einer Sitzung im deutschen Bundestag erklärten sie, die Summe sei nur ein Drittel der aufgewendeten Kosten für den Regierungsumzug von Bonn nach Berlin. Dreißig Prozent davon, das ist nicht viel.
weltnetz.tv: Herr Glezos, meine letzte Frage: Wir sind hier auf dem Dach in der Kuppel des deutschen Bundestages. Wenige Meter von uns entfernt tagt die Regierung, tagt das Parlament. Nun gibt es am Sonntag Wahlen in Griechenland und ihre Partei - die SYRIZA - hat gute Chancen, die Regierung zu übernehmen. Aber es gab gleichzeitig sehr harsche, sehr kritische Stellungnahmen der deutschen Regierung, die vor schweren Konsequenzen für Griechenland gewarnt hat. Wie haben Sie das empfunden? Haben Sie das als Druck, vielleicht sogar als Erpressung, empfunden?
Manolis Glezos: Zuallererst würde ich gerne das Vorangegangene vervollständigen. Denn ich habe versäumt zu erwähnen: Das Thema wird offiziell von Seiten der deutschen Regierung, konkreter von Herrn Schäuble selbst, als abgeschlossen erklärt. Doch gerade mit dieser Aussage bestätigt Herr Schäuble, dass das Thema überhaupt existiert. Ich habe ihm folgende Frage gestellt und erwarte eine Antwort. Ich stelle ihm von hier aus noch einmal die Frage und fordere eine Antwort. Wann wurden die griechischen Reparationsansprüche abgegolten, und wie? Darauf erwarte ich eine Antwort. Das ist der eine Punkt.
Der andere Punkt: Er sagte, das Thema gehöre der Vergangenheit an. Wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen und in die Zukunft blicken. Ich frage ihn: Wenn er tatsächlich darin Recht haben sollte, warum hat dann die deutsche Regierung vor Kurzem erst die Nachkommen der Holocaust-Opfer, jüdischer Abstammung, die heute in Israel leben, nicht nur entschädigt, sondern ihnen außerdem einen Rentenanspruch ohne Zeitbeschränkung zugewiesen? Gehört das der Vergangenheit oder der heutigen Zeit an? Warum mit zweierlei Maß messen? Warum wird im Fall Israels dem Land entgegengekommen und warum im Falle Griechenlands nicht? Darauf ist er eine Antwort schuldig.
Um auf das andere Thema zu kommen, das Sie vorhin erwähnten: In Griechenland – und ich bitte, dass alle Ihre Zuschauer das wirklich ernst nehmen – hat das griechische Volk die Zeichen der Zeit erkannt und wird die Tore für ein anderes Europa öffnen, das heute so noch nicht existiert und nach dem wir uns sehnen. Wir verlangen ein demokratisches Europa. Ein Europa, das seinen Bürgern gehört und nicht der NATO und den USA. Es soll autonom, selbstverwaltet und unabhängig sein. Und das soll am Sonntag in Griechenland beginnen. Wie gesagt: Das griechische Volk hat die Zeichen der Zeit erkannt und wird den Weg bereiten für ein neues Europa. Das neue Europa wird am Sonntag in Griechenland geboren werden. Ein neues Europa, das sich alle seine Völker erhoffen. Ein Europa der Demokratie, des Friedens und nicht ein Europa eines autoritären Regimes!
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