Hegel, Marx und die Ontologie des gesellschaftlichen Seins

Domenico Losurdo

Im Schlusskapitel der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte fasst Marx sein Urteil über Hegel folgendermaßen zusammen:

„Die Hauptsache ist, dass der Gegenstand des Bewußtseins nichts andres ist als das Selbstbewußtsein oder dass der Gegenstand nur das vergegenständlichte Selbstbewußtsein, das Selbstbewußtsein als Gegenstand ist.“ Daraus folgt: „Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige.“[1]

Das ist eine Lesart, die im Verlauf von Marxens weiterer Entwicklung Abmilderungen und Modifizierungen erfährt, die zwar sehr bedeutungsvoll sind, aber keinen wirklichen und eigentlichen Widerruf darstellen. Und es handelt sich um eine Lesart, die ausgerechnet in ihrer radikalsten Formulierung bei verschiedensten Autoren und Strömungen der marxistischen Tradition Schule gemacht hat. Da ist Georg Lukács, der auch in seiner berühmten Monographie (Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft) das Verdienst hatte, die Zentralität der Themen Bedürfnis und Arbeit bei Hegel hervorzuheben: Wenn das erste Thema klar auf die biologische Natur des Menschen zielt, verweist das zweite auf die Transformation der physischen Natur, die notwendig ist, um die Bedürfnisse zu befriedigen. Und trotzdem hat Lukács 1967, also vier Jahre vor seinem Tod, keine Zweifel, dass „der Gegenstand, das Ding bei Hegel nur als Entäußerung des Selbstbewusstseins existiert“.[2] Es bleibt aber mysteriös, wie Hegel allein mit dieser Neigung zum Visionären – nur um den späten Lukács zu zitieren – „ein Philosoph mit einem starken und umfassenden Wirklichkeitssinn“ sein konnte, „mit einem derart intensiven Hunger nach echter Wirklichkeit, wie es vielleicht seit Aristoteles bei keinem Denker der Fall war.“[3]

Analog, wenn auch aus anderer Perspektive, argumentiert Ernst Bloch. Einerseits hebt er „den hochbedeutenden Effekt“ in der Phänomenologie des Geistes hervor, „dass die Fortentwicklung des Selbstbewusstseins durch das Bewusstsein des arbeitenden Knechts … geschieht“[4], womit wir wieder auf das Thema der Arbeit verwiesen sind und implizit auf die Bedürfnisse, die sie befriedigen muss, d. h. wir sind erneut sowohl auf die physische Natur in ihrer Komplexität verwiesen als auch auf die biologische Natur des Menschen. Andererseits behauptet Bloch, dass „das Wiedererreichen der Identität von Subjekt und Objekt bei Hegel – seiner bis zum Ende idealistischen, ja immer weltloser werdenden Dialektik gemäß – nur als völlige Zurücknahme der Entäußerungen (Gegenstände überhaupt) ins Subjekt gedacht wird“.[5] Ohne solche Risse präsentiert sich dagegen die Hegeldeutung, die in Italien die Schule von Galvano Della Volpe und Lucio Colletti hervorgebracht hat – als einen grotesken Konscientialismus (d.h. als eine Reduktion der Realität auf ein Bewusstseinsobjekt).

Wenn sich Marx und mehr noch die sich auf ihn berufende Tradition damit beschäftigt haben, die absolute Originalität der neuen Weltanschauung und der neuen politischen Bewegung hervorzuheben, so haben sich auf der anderen Seite nicht nur der italienische Neoidealismus, sondern auch die unterschiedlichsten Denkströmungen – besonders in den Jahren des Kalten Kriegs – damit beschäftigt, Hegel abzuschirmen von jeder Ansteckung mit dem kommunistischen „Materialismus“, der die ideellen, spirituellen und religiösen Werte des Westens verspottete und bedrohte. Und von solchen unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Motivationen her kam es schließlich zu dem Gemeinplatz, die Hegeldeutung als Konscientialismus oder panlogisches Modell zu etablieren. In einer radikal veränderten historischen Situation ist es jetzt an der Zeit, das Problem unter neuen Aspekten zu durchdenken.

Natur und Arbeit bei Hegel

Nach den grundlegenden methodischen Überlegungen allgemeinen Charakters und bevor die wirkliche und eigentliche Abhandlung beginnt, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte mit der Hervorhebung der „geographische[n] Grundlage[n] der Weltgeschichte“ beginnen. Klargestellt wird, dass es unmöglich ist, ohne Berücksichtigung der Geographie, des „Boden[s]“, auf welchem der „Volksgeist“ wurzelt, ohne Kenntnisnahme seines „Naturzusammenhangs“ als „wesentlich[e] und notwendig[e] Grundlage“, etwas von der konkreten historischen und politischen Entwicklung zu verstehen.[6]

Wie man sieht, die Natur ist alles andere als verschwunden. Sie spielt sogar eine übertriebene Rolle. Die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte halten fest, dass „Kälte und Hitze…zu mächtige Gewalten [seien – d. Ü.], als dass sie dem Geist erlauben, für sich eine Welt zu erbauen. … Aber in jenem Extrem der Zonen kann die Not wohl nie aufhören und niemals abgewendet werden, der Mensch ist beständig darauf angewiesen, seine Aufmerksamkeit auf die Natur zu richten, auf die glühenden Strahlen der Sonne und den eisigen Frost.“[7] Zumindest könnte man sagen, dass das Beharren auf die Unveränderlichkeit der natürlichen Gegebenheiten problematisch erscheint. Wir können Hegel zustimmen, dass die am Meer gelegenen Zivilisationen im allgemeinen mehr Offenheit und Unternehmungsgeist aufweisen. Und: „Das Land, die Talebene fixiert den Menschen an den Boden, er kommt dadurch in eine unendliche Menge von Abhängigkeiten.“[8] Aber wir können nicht der Schlussfolgerung zustimmen, wonach in den am Meer liegenden Zivilisationen „der Handel … und die Schiffahrt“ mit der „bürgerliche[n] Freiheit“ einhergehen.[9] Verdrängt wird hier der Sklavenhandel, der lange Zeit von Staaten, Regionen und Städten angeführt wird, die am Meer liegen und sich eben aktiv mit Handel und Schifffahrt beschäftigen.

Über die physische Natur hinaus spielt auch die biologische Natur des Menschen bei Hegel eine wesentliche Rolle. Der Triumph der Konquistadoren in der Neuen Welt wird mit einer Reihe von Faktoren begründet: dem Fehlen „des Pferdes und des Eisens“ sowie der „Schwäche des amerikanischen Naturells“ der Urbevölkerung.[10] Nicht behandelt werden dagegen die äußerst tiefen Widersprüche und Konflikte, die die präkolumbianischen Gesellschaften durchmachten und die wahrscheinlich bei der durch die Invasoren herbeigeführten Niederlage eine bedeutsamere Rolle gespielt haben als die fragile körperliche Konstitution der Einheimischen. Abschließend ist zu sagen, dass Hegel vor der Gefahr des Reduktionismus warnt und seinen Standpunkt folgendermaßen zusammenfasst: „Die Natur darf nicht zu hoch und nicht zu niedrig angeschlagen werden.“[11] Und wenn dem Philosophen dennoch ein kritischer Vorwurf gemacht werden muss, so ist es nicht der Idealismus, sondern der gelegentliche Fall in den Naturalismus.

Mit diesen Voraussetzungen kann die oben zitierte Äußerung in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, wonach die Arbeit, von der Hegel spricht, ausschließlich die „abstrakt geistige“ wäre, nur als Ausdruck einer jugendlichen Zuspitzung angesehen werden (dass eine Äußerung aus Notizen, die nicht für die Publikation bestimmt waren, emphatisch verabsolutiert wurde, fällt in erster Linie in die Verantwortung von Interpreten im 20. Jahrhundert). In Wirklichkeit ist die Natur nicht nur gut präsent in der Philosophie der Geschichte, sie fehlt auch keineswegs in der politischen Philosophie Hegels: „Praktisch verhält sich der Mensch zu der Natur als zu einem Unmittelbaren und Äußerlichen selbst als ein unmittelbar äußerliches und damit sinnliches Individuum…“[12] Es handelt sich um eine praktische Beziehung, die sich über die Arbeit manifestiert; und die harte Pflicht der Arbeit setzt den Widerstand und somit die materielle Stärke der Natur voraus: „Ernst ist die Arbeit in Beziehung auf das Bedürfnis: ich oder die Natur muß zugrunde gehen; wenn das eine bestehen soll, muß das andere fallen.“[13] Und es wäre unausweichlich der Mensch, der nachgeben und unterliegen würde, wenn er den Kampf mit leeren Händen führen würde: „Welche Kräfte die Natur auch gegen den Menschen entwickelt und loslässt, Kälte, wilde Tiere, Wasser, Feuer – er weiß Mittel gegen sie, und zwar nimmt er diese Mittel aus ihr, gebraucht sie gegen sie selbst.“[14] Ja, die Entwicklung der Technik, der Produktivkräfte, letzten Endes der Geschichte, stellt die Antwort des Menschen auf den Widerstand der Natur dar, die sich der Befriedigung seiner Bedürfnisse widersetzt: „Die Naturgegenstände nämlich sind mächtig und leisten mannigfaltigen Widerstand. Um sie zu bezwingen, schiebt der Mensch andere Naturdinge ein, kehrt somit die Natur gegen die Natur selbst und erfindet Werkzeuge zu diesem Zwecke. Diese menschlichen Erfindungen gehören dem Geiste an, und solches Werkzeug ist höher zu achten als der Naturgegenstand.“[15] Und soweit es immer Resultat des Kampfes ist, den der Mensch führt, um sein Überleben und die Verbesserung seiner Lebensbedingungen zu sichern, steht das Werkzeug über der momentanen Befriedigung der Bedürfnisse, die es zu sichern vermag: „ … der Pflug ist ehrenvoller, als unmittelbar die Genüsse sind, welche durch ihn bereitet werden und die Zwecke sind. Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren Genüsse vergehen und vergessen werden.“[16] Es ist kein Zufall, dass im alten Griechenland die „Ehre der menschlichen Erfindung zur Bezwingung der Natur … den Göttern zugeschrieben“ wird.[17]

Dennoch handelt es sich um eine Domestizierung, die keineswegs unendlich ist. Das Dilemma, wonach im Verhältnis Mensch-Natur einer der beiden Größen nachgeben muss, würde bei den Anhängern der modernen ökologischen Bewegung Verdruss hervorrufen. Ihre Zustimmung bekäme dagegen die Schlussbeobachtung der Enzyklopädie: In seinem Kampf erringt der Mensch bedeutsame Siege, die aber immer nur Teilsiege sind, denn „der Natur selbst, des Allgemeinen derselben, kann er auf diese Weise nicht sich bemeistern, noch es zu seinen Zwecken abrichten.“[18]

Bei Hegel ist die Natur so wenig abwesend, dass sie sogar eine essentielle Rolle in der Definition der zentralen Kategorien des politischen Diskurses spielt. Nehmen wir den Begriff der „Freiheit“. Warum befindet sich der Hungernde, der wegen des Hungers riskiert, sein Leben zu verlieren, schon allein deshalb in einer Situation der „totale[n] Rechtlosigkeit“[19], der Unmöglichkeit, „den ganzen Umfang der Freiheit“[20] zu realisieren und folglich in substanzieller Sklaverei?[21] – Durch die Tatsache, dass „das Leben … die reale Seite der Persönlichkeit“ darstellt. Wir werden hier auf die biologische Natur des Menschen zurückgeführt, deren Zentralität höchste Evidenz durch die Feststellung erhält, dass das „Leben … ein wahrhaftes Recht gegen formelles Recht“ besitzt.[22]

Dass ein Arbeiter – und sei dies auch vertraglich sanktioniert – seine ganze konkrete Lebenszeit an den Arbeitgeber abtritt, würde die Reduktion auf den Sklavenstatus bedeuten. Lesen wir die Grundlinien der Philosophie des Rechts: „Durch die Veräußerung meiner ganzen durch die Arbeit konkreten Zeit und der Totalität meiner Produktion würde ich das Substantielle derselben, meine allgemeine Tätigkeit und Wirklichkeit, meine Persönlichkeit zum Eigentum eines anderen machen.“[23]

Vielleicht noch aussagekräftiger sind die analogen Stellen in den Vorlesungen: „Durch die Veräußerung meiner ganzen durch Arbeit zu erfüllenden Zeit würde ich meine allgemeine Tätigkeit und Wirklichkeit, meine Persönlichkeit zum Eigentum eines anderen machen.“[24] Und weiter: „Durch die Veräußerung also meiner ganzen concreten Zeit, erfüllt durch meine Arbeit, oder die Produktion in ihrer Totalität, wird auch das Ganze mit veräußert. … Meine Persönlichkeit ist also nur erhalten, wenn nur ein Theil meiner Besonderheit durch die Zeit beschränkt veräußert wird.“ [25]

Wenn in den Grundlinien die Person und die Freiheit der Person aus der Perspektive des „Lebens“ gedacht und definiert werden, dann werden sie jetzt gedacht und definiert von der konkreten Arbeits- und Lebenszeit her; und auch von der Gesamtheit der Aktivitäten und der Manifestationen der menschlichen Lebenskräfte. Da ist man sehr weit entfernt von der Behauptung, „abstrakt geistige“ Arbeit sei das Objekt von Hegels Analyse. Diese funktioniert klar als Grundlage dessen, was Das Kapital in epischen Worten als den Kampf um die Regelung und Reduktion der Arbeitszeit bezeichnet und als Kampf um die Freiheit feiert. In den Worten von Marx organisiert sich der Arbeiter und kämpft darum, nicht für „seinen ganzen Lebenstag“ auf eine einfache Arbeitskraft reduziert zu werden, um nicht eine weitere „Verkürzung seiner Lebenszeit“[26] zu erleiden. Eine Anklage, die die amerikanischen Arbeiter erheben, wird vom Kapital wiedergegeben und unterstrichen, nämlich, „daß die unter dem jetzigen System erheischte Länge der Arbeitszeit zu groß ist und dem Arbeiter keine Zeit für Erholung und Entwicklung läßt, ihn vielmehr auf einen Zustand der Knechtschaft herabdrückt, der wenig besser als die Sklaverei ist.“[27]

Kehren wir jetzt zur Geschichtsphilosophie Hegels zurück: Die Geschichte der Freiheit ist auch die Geschichte der fortschreitenden Befreiung der (körperlichen) Arbeit von den Fesseln der Sklaverei und der Knechtschaft. Im despotischen Orient waren praktisch alle „Knechte zur Errichtung von ungeheuer großen Werken“.[28] In Griechenland, wo eigentlich die Geschichte der Freiheit beginnt, „ist die dem Bedürfnis (d.h. der Befriedigung der Bedürfnisse durch die materielle Arbeit) angehörige Besonderheit noch nicht in die Freiheit aufgenommen, sondern an einen Sklavenstand ausgeschlossen“.[29] Wir wissen, dass auch in der heutigen Welt der nicht beschäftigte oder invalide Arbeiter den Hungertod riskiert und unter Bedingungen substantieller Sklaverei lebt. Die Geschichte der Freiheit und der Befreiung der (körperlichen) Arbeit ist noch nicht zu Ende.

Das Sein und das gesellschaftliche Sein

Bezüglich auf die bereits angeführte Passage, in der Hegel bekräftigt, dass sich der Mensch zur äußeren Natur „praktisch“ verhält, kommt Lenin dazu, „Hegel und Marx“ explizit zusammen zu bringen und bei Hegel „Ansätze des historischen Materialismus“[30] hervorzuheben. Aber was ist schon der historische Materialismus? In der Deutschen Ideologie können wir lesen: „Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.“[31] Sehen wir uns nun die Formulierung aus dem Vorwort von Zur Kritik der Politischen Ökonomie an: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt, ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“[32] Wir könnten das Problem also folgendermaßen formulieren: Muss man, um den historischen Materialismus zu definieren, auf das „Sein“ oder auf das „gesellschaftliche Sein“ zurückgehen? Offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen, aber das Verständnis der gesellschaftlichen Konflikte und der Geschichtsprozesse verlangt in erster Linie die Analyse des gesellschaftlichen Seins. Sonst wäre die These sinnlos, mit der das Manifest der Kommunistischen Partei beginnt, wonach die Geschichte „Geschichte von Klassenkämpfen“ ist. Andererseits lässt sich nur so der Vorwurf des historischen Idealismus erklären, der von der Deutschen Ideologie gegen einen Philosophen erhoben wird, der seinerseits nicht müde wird, seinen Materialismus heraus zu kehren: „Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er kein Materialist. Bei ihm fallen Materialismus und Geschichte ganz auseinander.“[33] Mit anderen Worten gesagt: Bei Feuerbach ist der Verweis auf die Natur immer da, auf das natürliche Sein, aber es fehlt das Wesentliche, die Aufmerksamkeit für das gesellschaftliche Sein, für die gesellschaftliche Objektivität. Wegen dieses Mankos konstituiert er das Subjekt immer vom allgemeinen „Menschen“ her, anstatt von den „wirklichen historischen Menschen“[34], von den Menschen, die im Zusammenhang mit den historisch determinierten materiellen Lebensbedingungen zu verstehen sind und sich in gesellschaftlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Konflikten befinden, die ebenfalls historisch determiniert sind. An diesem Punkt drängt sich die Frage auf, wie die Dinge bei Hegel stehen. Derselbe Bloch, der ihn beschuldigt, die Objektivität als solche aufgelöst zu haben, beobachtet, um den vermeintlich idealistischen Philosophen zu charakterisieren, scharfsinnig die großartige „Umkehr der (romantischen) Ironie des Subjekts zu der des Objekts“.[35] Das Objekt, von dem hier die Rede ist, ist das gesellschaftliche Objekt, das gesellschaftliche Sein. Man könnte sagen und hervorheben, dass die Entwicklung der Phänomenologie des Geistes die fortschreitende und stets reicher und reifer werdende Erkenntnis des Gewichts des gesellschaftlichen Seins ist, aus dem man nicht ausbrechen kann und darf, auch wenn, ja besonders wenn man ambitiöse Pläne zur Weltveränderung hegt. Immer wenn das Bewusstsein meint, sich gegenüber dem gesellschaftlichen Sein souverän zu verhalten, erweist sich letzteres doch als souveräner. Und so geschieht es, dass der „Weltlauf“ mit seiner Ironie über die „Tugend“ herrscht. Und der reale historische Prozess beherrscht mit seiner Ironie zunächst das „ehrliche Bewußtsein“, dann auf unterschiedliche Weise das „edelmütige Bewusstsein“ und schließlich die „schöne Seele“. Lukács wirft Hegel bis zum Schluss vor[36], die „Entfremdung“ mit der „Vergegenständlichung“ und sogar mit der „Gegenständlichkeit“ identifiziert zu haben. Wir haben es hier also mit einem Philosophen zu tun, der aus der Objektivität flüchtet wie vor einer ansteckenden Krankheit. Dabei ist gerade das die Kritik, die Hegel an Kant und der schönen Seele übt. Er ist geradezu gelähmt von der „Angst vor dem Objekt“[37] Was die schöne Seele betrifft: Diesem Wesen fehlt „die Kraft der Entäußerung, die Kraft, sich zum Ding zu machen und das Sein zu ertragen. Es lebt in der Angst, die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Dasein zu beflecken; und um die Reinheit seines Herzens zu bewahren, flieht es die Berührung der Wirklichkeit“.[38] Nach Hegel leidet das Deutschland seiner Zeit an einer Art nationaler Krankheit, die er „Hypochondrie“ nennt. Ja, die „Hypochondrie“ ist die herrschende „Ansicht“, die „alles Objektive vereitelt hat und dann nur noch diese Eitelkeit in sich selbst genießt“[39] So schreibt Lukács Hegel die Krankheit zu, die dieser so kraftvoll diagnostiziert und denunziert!

Es lohnt festzuhalten, dass die Hegelsche Ironie des Objekts von Marx und Engels zutiefst geschätzt und übernommen wird. Sie bedienen sich ihrer, um über die zu spotten, die – besonders nach der Niederlage einer Revolution – anstatt sich mit der Analyse der objektiven Widersprüche, mit den ideologischen Schwächen und den politischen Fehlern zu beschäftigen, die zu so einem Resultat geführt haben – es vorziehen, Beweise zu liefern einerseits für die Güte und Reinheit der eigenen Absichten und andererseits für die allgemeine Gemeinheit und Ungunst der Umstände und des Weltenlaufs überhaupt. Wenn sie diesen historischen Idealismus als unwirksam in politischer Hinsicht und narzisstisch in moralischer Hinsicht verurteilen, beziehen sich Marx und Engels ausdrücklich und wiederholt auf die Bilder der Phänomenologie des Geistes, die wir oben zitiert haben. Arnold Ruge und die anderen „Revolutionäre“ desselben Typs, die zu dem Schluss gekommen waren, „dass die Welt mit sehr wenig Weisheit regiert wird“, konnten nur ihr „redliches Bewußtsein“ oder ihr „edelmütiges Bewußtsein“ hervorkehren. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich sieht man in den Jahren nach 1848 die „schöne Seele“ sich aufplustern und darüber greinen, dass sie sich von der profanen Menschheit „missverstanden“ und unverstanden fühlt. Doch „schlägt nach Hegel das edelmütige Bewußtsein notwendig in das niederträchtige um.“[40] Beim genaueren Hinschauen verliert die schöne Seele schnell ihre angebliche Makellosigkeit.

Wenn nach dem Urteil von Marx bei Feuerbach die fehlende Aufmerksamkeit für das gesellschaftliche Objekt einher geht mit einer Geschichtsauffassung, in der kein Platz ist für die „wirklichen historischen Menschen“, d. h. für die Menschen, die in ganz bestimmten gesellschaftlichen und Klassenbeziehungen eingebunden sind, trifft für Hegel das Gegenteil zu: Die Aufmerksamkeit, die letzterer dem gesellschaftlichen Konflikt und seiner konkreten Ausformung widmet, ist gewaltig. Dies gilt für die alte wie für die moderne und zeitgenössische Geschichte. Ich will mich auf ein Beispiel beschränken: Im ancien régime bedingt die „Freiheit der Barone“ die „absolute Knechtschaft“ der „Nation“ und verhindert die „Befreiung der Hörigen“. Daher ist festzustellen: „Das Volk … ist überall durch die Unterdrückung der Barone befreit worden.“[41] Die Aristokratie empfindet den Verlust des Privilegs, das aus ihr z. B. den einzigen Träger der Rechtspflege machte, als „ungehörige Gewalttätigkeit, Unterdrückung der Freiheit und Despotismus“.[42] Hegel beobachtet also: „Man muss, wenn von Freiheit gesprochen wird, immer wohl Acht geben, ob es nicht eigentlich Privatinteressen sind, von denen gesprochen wird.“[43] Das ist eine Schlussfolgerung, die das Interesse und den Beifall von Lenin erhält, der wegen der verdienstvollen Aufmerksamkeit auf die „Klassenverhältnisse“ darin wieder „Ansätze“ zu „historischem Materialismus“[44] wahrnimmt.

Der historische Idealismus als Schwächung oder Negation des gesellschaftlichen Seins

Und wieder – auch in den Augen Lenins – verweist der historische Materialismus zuerst auf das gesellschaftliche Sein. Und es ist die Sicht des gesellschaftlichen Seins, die Sicht der Geschichte und der Gesellschaft, des „künstlichen Terrains“ (um es mit Labriola zu sagen), auf welchem sich das Leben des Menschen, der zweiten Natur, zum entscheidenden Kampffeld des politisch-ideologischen Kampfes verbindet; auch, wenn man noch hinzufügen muss, dass das gesellschaftliche Sein seinerseits vom natürlichen Sein konditioniert ist. Eine „materialistische“ Sicht der ersten Natur und d. h. die Bestätigung der Priorität des Objekts gegenüber dem Subjekt, der Natur gegenüber dem Bewusstsein, finden wir auch im Bereich der Religionen, aber das hat sie nicht gehindert, sich für Jahrtausende zum Instrument der idealistischen Beweihräucherung und Verklärung der bestehenden politisch-sozialen Verhältnisse zu machen. Und die „materialistische“ Sicht der ersten Natur charakterisiert selbstverständlich Feuerbach, aber das hindert ihn nicht, in den historischen Idealismus zu fallen. Von Marxens (und Engels`) Standpunkt aus kann man vielleicht eine analoge Kritik an jenem Hegel üben, der auf die gemäßigten Klimazonen das Gebiet begrenzt, in dem die weltgeschichtlich bedeutsamen Völker entstehen können, oder der der fragilen Konstitution der amerikanischen Indianer erhebliches Gewicht beimaß, um die Katastrophe zu erklären, die sie durch ihre Konquistadoren erlitten. So ein Idealismus ist dennoch nicht mit Konscientialismus gleichzusetzen. Aber wieso also ist die Interpretation von Hegels Denken als Konscientialismus so verbreitet? Bei der Beantwortung dieser Frage kann uns vielleicht eine Beobachtung des späten Lukács helfen. Nachdem er, wie wir wissen, den außerordentlichen „Wirklichkeitssinn“ von Hegel hervorgehoben hat, fügt er hinzu, dass „für ihn – simultan mit der Aneignung der Tatsachen selbst – deren kategorielle Beschaffenheit im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit“ stand.[45] Es genügt, die erste Feststellung von der zweiten zu trennen, und die Sache ist klar!

Tatsächlich ist Hegel jeder Konscientialismus fremd, ja, er steht dem historischen Idealismus äußerst fern. Um das zu erkennen, genügt ein Beispiel. Zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sehen sich die Kultur und die politische Philosophie des Westens einem Problem gegenüber: Wie war die unterschiedliche Entwicklung Frankreichs gegenüber England und den Vereinigten Staaten zu erklären? Im ersten Land folgte auf die Revolution eine Konterrevolution, die ihrerseits den Weg eröffnete für eine weitere Revolution. Ein politisches Regime löste ein anderes ab: absolutistische Monarchie, konstitutionelle Monarchie, jakobinischer Terror, Militärdiktatur, Kaiserreich, demokratische Republik, Bonapartismus … Und es gelang nicht, das Ende der Krise und die Stabilisierung vorauszuahnen. Wie sehr das alles in spektakulärer Weise mit der graduellen und konstruktiven Evolution in den anderen beiden Ländern kontrastierte! Wie also war dieser radikale Unterschied zu erklären? Bedeutende Autoren wie Tocqueville und J. S. Mill feierten den robusten moralischen und praktischen Sinn sowie die Liebe zur Autonomie und zur individuellen Freiheit, die die Angloamerikaner angeblich charakterisierten: und – im Gegensatz zu den unglücklichen Franzosen – würde es ihnen dank dieser Tugenden gelingen, den Horror von Bürgerkriegen zu vermeiden und die Freiheit zu retten. Diese Erklärung fällt – zumindest was Tocqueville betrifft – in eine Zeit, in der, wenige Jahre bevor der Sezessionskrieg in den Vereinigten Staaten ein Blutbad anrichtet, die Institution der Sklaverei gerade in den Vereinigten Staaten lebendig und stark ist. Und zwei Jahrzehnte später sieht Frankreich eine solide parlamentarische Demokratie entstehen, die sicher nicht weniger fortschrittlich ist als die englische und die amerikanische.

Wenden wir uns Hegels Lesart zu. Die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte heben zwei wichtige Punkte hervor: 1. „Die nordamerikanischen Freistaaten haben keinen Nachbarstaat, gegen den sie in einem Verhältnis wären, wie es die europäischen Staaten unter sich sind, den sie mit Misstrauen zu beobachten und gegen den sie ein stehendes Heer zu halten hätten“. 2. Der „Ausweg der Kolonisation“ erlaubt es der nordamerikanischen Republik, die sozialen Konflikte in erheblichem Ausmaß zu entschärfen. Letztlich heißt das: „hätten die Wälder Germaniens noch existiert, so wäre freilich die Französische Revolution nichts ins Leben getreten“[46] – oder sie wäre weniger radikal und weniger gewaltsam verlaufen. Nicht anders als Hegel argumentiert Engels, der bezüglich Nordamerikas festhält: „Hier sind die Klassengegensätze nur unvollständig entwickelt; die Klassenkollisionen werden jedes Mal vertuscht durch den Abzug der proletarischen Überbevölkerung nach dem Westen.“[47]

Das sind also zwei materialistische Erklärungen. Aber die von Hegel ist die umfassendere, weil sie anknüpft an ein Element, das bei Engels fehlt, nämlich den geopolitischen Zusammenhang. Zumindest aus der Sicht von Hegel ist der geopolitische Zusammenhang (der Vorteil der Vereinigten Staaten, an den eigenen Grenzen keine großen Mächte zu haben, die tendenziell Rivalen wären) nicht einfach von der Natur vorgegeben, wohl aber geprägt durch die Geschichte: Wir haben es hier mit einer weiteren Artikulation des gesellschaftlichen Seins zu tun.

Mit der stereotypen Entgegensetzung, die Tocqueville und Mill zwischen Franzosen und Angelsachsen vornehmen, beruht der historische Idealismus auf dem Ausklammern des gesellschaftlichen Seins und der Einführung eines nicht existierenden natürlichen Seins. Dieselbe Beobachtung kann man auch bei anderen Denkströmungen machen, die in noch schärferer Weise vom gesellschaftlichen Sein zu einer Idee des Seins schlittern, welche von einer vermeintlichen anthropologischen und rassistischen Natur ausgeht.

Kritik des Idealismus und Ontologie des gesellschaftlichen Seins

Wenn man sich die Lehre von Marx und Engels zunutze macht, ist es möglich, Hegel Rückfälle in den historischen Idealismus zu vorzuwerfen. Aber sind diejenigen, die sich als erste mit der theoretischen Systematisierung des historischen Materialismus beschäftigten, immun gegen solche Rückfälle gewesen? In der kommunistischen Gesellschaft, die Marx und Engels im Auge hatten, verschwinden zusammen mit der Klassenspaltung der Markt, die Nation, die Religion, der Staat und vielleicht sogar die Rechtsnorm als solche, weil sie überflüssig geworden ist durch eine solch wundersame Entwicklung der Produktivkräfte, dass die freie Befriedigung eines jeden Bedürfnisses möglich wird und damit auch die Überwindung der schwierigen Aufgabe der Ressourcenverteilung. Steht eine solche Vision auf der Höhe des historischen Materialismus? Als sich der späte Lukács mit der marxistischen Traditionslinie bei der Konstruktion einer Ontologie des gesellschaftlichen Seins beschäftigte, hatte er recht, vor einer doppelten Gefahr des historischen Idealismus zu warnen: „Entweder unterscheidet sich das gesellschaftliche Sein überhaupt nicht vom Sein überhaupt oder es handelt sich um etwas radikal anderes, das gar nicht mehr Seinscharakter hat.“[48] Indem es auf die Praxis insistiert und auf die Transformation der Welt, steht das revolutionäre Denken in der Gefahr des zweiten Typs von historischem Idealismus. Man denke an Fichte, der einen Parallelismus zwischen seiner Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre und der kraftvollen Aktivität des revolutionären Frankreich etablierte: „… wie jene Nation von den äußeren Ketten den Menschen losreist, reist mein System ihn von den Feßeln der Dinge ansich, des äußern Einflußes los…“.[49] Aber nicht anders als Fichte positioniert sich der junge Lukács im Jahre 1922, als er unter dem Einfluss der Revolution, die dabei war, die Welt zu verändern, schrieb: „Denn erst hier, wo der Kern des Seins sich als gesellschaftliches Geschehen enthüllt hat, kann das Sein als bisher freilich unbewußtes Produkt menschlicher Tätigkeit erscheinen, und diese Tätigkeit selbst wiederum als das entscheidende Element der Umwandlung des Seins.“[50] Auch hier scheint etwas durch, was als Idealismus der Praxis bezeichnet werden könnte.

Marx’ und Engels’ Entwicklung fällt in die Jahre, in denen einerseits das Echo der Französischen Revolution noch stark ist. Zum anderen sind bereits die Vorzeichen der gigantischen revolutionären Welle von 1848 zu spüren. Diese hätte – so die Hoffnungen der beiden jungen Revolutionäre – über die alten Feudalverhältnisse hinausgehen und auch die bürgerliche Ordnung zur Diskussion stellen müssen. So versteht man gut, dass in der damals von ihnen entwickelten Vision des Kommunismus der Markt, die Nation, die Religion, der Staat dazu tendieren, „den Seinscharakter“ zu verlieren – um es in der Sprache des reiferen Lukács zu sagen

Das Sein des gesellschaftlichen Seins kann auf zweierlei verschiedene Weisen geschwächt oder negiert werden. Ein solches Resultat wird in erster Linie mit einer schematischen Sicht der Historizität erreicht, die unfähig ist, zwischen kurzer und langer Dauer zu unterscheiden: Die Historizität der Nationen und der Nationalsprachen ist indiskutabel, aber ihr Verlöschen auf der Welle einer radikalen Revolution zu behaupten, bedeutet, die Langzeitdimension zu verlieren. Oder man pflegt eine verzerrte Sichtweise des gesellschaftlichen Seins, die es als eine von einer homogenen historischen Zeit geregelte homogene Realität konfiguriert. Dagegen entwickeln sich so unterschiedliche Realitäten wie zum Beispiel die Moden, die politischen Institutionen, die Nationalsprachen auf radikal verschiedenen Zeitschienen, sind also von Mal zu Mal durch eine unterschiedliche ontologische Spannweite charakterisiert.

Das heißt, die Existenz des gesellschaftlichen Seins kann geschwächt oder negiert werden, wenn man aus den Augen verliert, wie viel Natur in der historischen und politischen Welt weiterlebt: So entwickelt eine Gesellschaft auch sein kann, die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, bleiben der biologischen Fragilität unterworfene, natürliche Wesen – und diese Fragilität manifestiert sich nicht nur durch Krankheit und Tod, sondern auch durch die Leidenschaften. Das macht die unmittelbare Identifikation zwischen Individuum und Art unmöglich, von der jene Teile der kommunistischen Bewegung oft träumen, die am meisten messianisch sind. Die Möglichkeit des Konflikts zwischen verschiedenen Individuen bleibt auch in einer Gesellschaft bestehen, die sich befreit hat von der Spaltung und dem Antagonismus der Klassen. Welchen Sinn macht es dann, vom Absterben des Staates zu sprechen, ja, sogar der Rechtsordnung an sich?

Die beiden Prozesse, aus denen die Schwächung oder die Annullierung des Seins des gesellschaftlichen Seins resultieren, können sich auch verflechten: Dies geschieht, wenn man erwartet, dass die Religion im Prozess der Überwindung der Klassenunterdrückung verschwindet. Einerseits vergisst eine solche Vorhersage, wie viel Natur in der gesellschaftlichen Realität erhalten bleibt und sie verliert auch das Prekäre der individuellen Existenz aus dem Auge, wie auch die Angst vor dem Tod. Weiterhin entgeht einer solchen Vorhersage die Verbindung zwischen Religion und nationaler Identität, denn ehe, dass sie ausschließlicher Ausdruck des Klassenkampfes ist, verweist die Religion auch auf eine gesellschaftliche Realität (die Nation) – die sicher historischen Charakter hat, aber einer Zeitlichkeit von erheblicher Dauer unterworfen ist.

Die Geschichte des „Realsozialismus“ ist auch die Geschichte einer schmerzhaften Entdeckung der Objektivität des gesellschaftlichen Seins. Weniger als zwei Jahre nach dem Ausbruch der Oktoberrevolution hielt Gramsci fest, dass „nur die Bolschewiken es verstanden hätten, dem tiefen Fall in Elend, Barbarei, Anarchie und Auflösung“, der „von einem langen und desaströsen Krieg“ aufgerissen worden war, ein Ende zu setzen. Dafür konstituierten sie „eine Aristokratie von Staatsmännern“ – und als der „größte Staatsmann des gegenwärtigen Europas“ sei Lenin anzusehen. Man versteht gut die skandalisierte Reaktion eines anarchistischen Lesers des Ordine Nuovo. Er weist darauf hin, dass die sowjetische Verfassung selbst das Ziel aufstellt, eine Ordnung zu schaffen, in deren Rahmen „weder Klassenunterschiede noch Staatsmacht“ existieren werden. Der russische Staat, der von den Verfechtern des absterbenden Staates gerettet wird – das ist nicht das einzige Paradox in der Geschichte des Realsozialismus!

Die Oktoberrevolution hätte also einen zielgerichteten Prozess in Gang setzen sollen, der nicht nur die Abschaffung der Staatsgrenzen anvisierte, sondern auch die Auflösung der Identitäten und Grenzen der Nationalitäten. Im März 1929 musste Stalin jedoch feststellen, „wie kolossal groß die Stabilität der Nationen ist.“ Auch die folgende Zielvorstellung kann man als Paradox werten, analog zu dem, was wir eben gesehen haben: Indem die kommunistische Bewegung dem Prozess der Emanzipationsbewegung der Kolonialvölker einen kräftigen Impuls gab, hat sie zweifellos in bemerkenswertem Maß zur Stärkung und Vermehrung der nationalen Identitäten beigetragen. Dasselbe kann man hinsichtlich der Sprachen sagen, die – auch nach einer in marxistischen Kreisen verbreiteten und u. a. von Karl Kautsky geteilten Auffassung – früher oder später hätten verschmelzen müssen in der Einheitssprache der schließlich geeinten Menschheit. Aber damit noch nicht genug: In zurückgebliebenen und halbfeudalen Gesellschaften hat die von den an die Macht gelangten Kommunisten geförderte Entwicklung der Wirtschaft und der Produktivkräfte auch die Entwicklung der Marktbeziehungen mit sich gebracht und gewöhnlich auch die Entstehung eines authentischen nationalen Markts. Daraus ist zu schlussfolgern, dass die reale Regierungspraxis die theoretische Plattform in die Krise brachte, mit der, besonders in Russland, die Kommunisten an die Macht gekommen waren. Natürlich haben die Versuche nicht gefehlt, diesem Auseinanderdriften zu begegnen. Wie Hans Kelsen, ein bekannter Jurist, feststellte, wurde die Theorie vom Absterben des Staates von Stalin 1939 faktisch aufgegeben. Damit kam er dazu, auch mit mehr oder weniger Vorsicht Abstand vom finalen Zusammenfluss der Nationen und der Nationalsprachen zu nehmen wie auch von der Ansicht, wonach die „Produktion für den Markt“ ein Synonym für den „Kapitalismus“ sei.[51]

Und schließlich noch das: Im Moment der Invasion der UdSSR durch das Dritte Reich appellierte Stalin mit Erfolg an die orthodoxe Kirche, damit sie den nationalen Widerstand unterstützte und nährte. Leider war die (teilweise) religiöse Toleranz nur eine kurze Etappe. Und dennoch, wenn wir an die Dritte Welt denken, ist es wahrscheinlich, dass die sich auf Marx berufende historische Bewegung, die die Auflehnung der Kolonialvölker beförderte, über verschiedene Vermittlungsstufen schließlich auch das Erstarken der religiösen Identitäten und die religiöse Wiedergeburt bestärkt hat, zumindest in einigen Gebieten.

Insgesamt gesehen spät, nur zum Teil und widerspruchsvoll, wurde die Theorie der Praxis angepasst, wenn auch die Schäden, die durch den historischen Idealismus (und den Messianismus) angerichtet wurden, enorm gewesen sind. Schon wegen des permanenten Ausnahmezustands war der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates sehr erschwert und erschien in der Perspektive der Auflösung des Staates gänzlich sinnlos. Als dann der Konflikt zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien ausbrach und jener zwischen der Sowjetunion und China, haben sich die Gegner – ausgehend von der gemeinsamen Vorstellung, dass sich die Konflikte zwischen den Nationen mit der Errichtung des Sozialismus auflösen würden – gegenseitig des Verrats beschuldigt. Jeder von ihnen war überzeugt, im Sinne des historischen Materialismus die klassenmäßigen Wurzeln (d. h. die Rückkehr des Kapitalismus) als Grund für das kritisierte Verhalten des gegnerischen Landes zu entdecken. Aber in Wirklichkeit manifestierten sie alle nur historischen Idealismus, indem sie die ontologische Spannweite der nationalen Realitäten und Besonderheiten aus dem Blick verloren, zwischen denen, auch nach der Errichtung des Sozialismus, verschiedene Interessen fortbestehen wie auch potentielle Konfliktgründe.

Der Übergang vom Ausbessern zum Neudenken der Theorie beginnt sich erst mit dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa abzuzeichnen. Diejenigen, die die Nutzlosigkeit einer Haltung à la Ruge spüren und die keine neuen Inkarnationen der „schönen Seele“, des „ehrlichen Bewußtseins“ und des „edelmütigen Bewußtseins“ sein wollen – was schon von Hegel und dann von Marx und Engels verspottet wurde – diese Menschen richten mit unterschiedlicher Sprache und Herangehensweise ihre Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit einer Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Eine solche Aufgabe kann aus der Regierungserfahrung heraus oder aus der philosophischen Reflexion formuliert werden. 1991 stellte Fidel Castro fest: „Wir Sozialisten haben den Fehler begangen, die Kraft des Nationalismus und der Religion zu unterschätzen.“[52] Tausende Kilometer entfernt, brechend mit der Kulturrevolution (die von der radikalen Linken im Westen manchmal als Beginn oder möglicher Beginn des Absterbens des Staates begrüßt worden war) rief Deng Xiaoping seit Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts dazu auf, sich für die Ausweitung und Verbesserung des „Rechtssystems“ stark zu machen und für die Einführung der „Herrschaft des Gesetzes“ in der Partei und „in der gesamten Gesellschaft“ – Voraussetzungen einer wirklichen Entwicklung der „Demokratie“.[53] So wenig der Sozialismus das Absterben des Staates provozierte, brachte er auch nicht das Verschwinden des Marktes mit sich, noch das Zusammengehen der mit dem Aufbau der neuen Ordnung beschäftigen Länder in einer Gemeinschaft ohne Spannungen und Konflikte. Und daher beruhte der sowjetisch-chinesische Konflikt – so urteilte der chinesische Führer im Gespräch mit Gorbatschow im Frühling 1989 – weniger auf ideologischen Divergenzen als darauf, dass „die Chinesen nicht auf Augenhöhe behandelt worden waren und sich erniedrigt fühlten“. Dank des neuen, schwer erarbeiteten Bewusstseins war es nun möglich, eine neue Seite aufzuschlagen.[54] Aber jetzt war es zu spät, zumindest für die Sowjetunion, und auch für China war die Situation nicht ungefährlich wie der „Vorfall“ auf dem Tienanmen-Platz zeigte.

Die beiden selbstkritischen Bilanzen von Castro und Deng müssen neu formuliert und generalisiert werden. Unterbewertet als Gegenstand eines idealistischen Modells wurde das Gewicht des gesellschaftliche Seins des Staates, der Nation, der Sprache, der Religion, des Marktes – das Gewicht all dessen, was dazu bestimmt war, zu verschwinden. So zeigt sich, dass der Marxismus eine Ontologie des gesellschaftlichen Seins benötigt. Dieses Problem hat der alte Lukács auf der philosophischen Ebene klar gestellt, auch wenn das Buch, das diesem Thema gewidmet ist, in weiten Teilen diesem Anspruch nicht gerecht wird. Im Marxismus warten der Staat, die Nation, die Religion, die Vielfalt der Zivilisationen, der Markt, die verschiedenen Ausformungen des gesellschaftlichen Seins noch darauf, ontologisch untersucht zu werden. Wir können uns fragen, ob bei der Lösung dieser Aufgabe nicht die Analysen, die Hegel zu diesem Punkt entwickelt hat, von großem Nutzen wären. Das Problem kann hier nur angerissen werden. Aber der Autor dieser Zeilen ist überzeugt, dass bei der Lösung der Aufgabe der Rekonstruktion und Neuformulierung des historischen Materialismus das Denken eines Philosophen einen wesentlichen Beitrag liefern kann, der hartnäckig und in oberflächlicher Weise des Idealismus angeklagt wurde.

Übersetzung: Sabine Kebir

* Erschienen in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung no 86, Juni 2011, S. 114-128.

 


[1]Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1968, S. 575 und 574.

[2]Georg Lukàcs, Vorwort zu: Geschichte und Klassenbewusstsein, in: Werke Bd. 2, Darmstadt 1968, S. 26.

[3]Georg Lukàcs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, in: Werke Bd. 13, Darmstadt 1968, S. 483.

[4]Ernst Bloch, Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main 1962, S.71.

[5]Ebd., S. 69.

[6]Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt am Main 1969-79, Bd. 12, S. 105.

[7]Ebd., S. 106-107.

[8]Ebd., S. 118.

[9]Ebd., S. 131.

[10]Ebd. S. 108-109.

[11]Ebd., S. 106.

[12]Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 245, in: Werke Bd. 9, S. 13.

[13]Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 297-298.

[14]Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, §245, a. a. O., S. 14.

[15]Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 295.

[16]Ders., Wissenschaft der Logik II, in: Werke, Bd. 6, S. 453.

[17]Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 295.

[18]Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 245, a. a. O., S. 14.

[19]Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, §127, in: Werke, Bd. 7, S. 240.

[20]Ders., Philosophie des Rechts, nach der Vorlesungsnachschrift K. G. v. Griesheim 1824/25, Bd. IV, Hrg. K. H. Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, S. 342.

[21]Ders., Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819 nach einer Nachschrift, Hrg. D. Henrich, Frankfurt am Main 1983, S. 196.

[22]Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 240.

[23]Ders., ebd., S. 144-145.

[24]Ders.: Philosophie des Rechts, § 36. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19), Hrg. K. H. Ilting, Stuttgart 1983, S. 230-231.

[25]Ders., Philosophie des Rechts. Nach der Vorlesungsnachschrift von H. G. Hotho 1822/23, Hrg. D. Henrich, Frankfurt am Main 1983, S. 254.

[26]Karl Marx, Das Kapital, in: MEW, Bd. 23, S. 280f.

[27]Ebd., S. 318/319 (Fußnote 196).

[28]Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie des Rechts, § 167. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19), a. a. O., S. 199.

[29]Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., § 356, S. 510.

[30]W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, in: ders., Werke, Bd. 38, Berlin 1970, S. 301f..

[31]Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 26.

[32]Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort, in: MEW, Bd. 13, S. 9.

[33]Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, a.a.O, S. 45.

[34]Ebd., S. 42.

[35]Ernst Bloch, Karl Marx, der Tod und die Apokalypse, in: Religion im Erbe, München und Hamburg 1967, S. 24.

[36]Georg Lukàcs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, in: Werke, Bd. 14, S. 540.

[37]Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Bd. 5, S. 45.

[38]Ders.: Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, S. 483.

[39]Ders., zitiert nach: Domenico Losurdo, Hegel und das deutsche Erbe, Köln,1989, S. 330.

[40]Karl Marx, Der Ritter vom edelmütigen Bewußtsein, in: MEW, Bd. 9, S. 493. Siehe auch: ders., Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, S. 185; Karl Marx/Friedrich Engels, Die großen Männer des Exils, in: MEW, Bd. 8, S. 245, 275f., und: Friedrich Engels, Antwort an Herrn Paul Ernst, in: MEW, Bd. 22, S. 83f.

[41]Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hg. von G. Lasson, Leipzig 1919-20, S. 902-903.

[42]Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., § 219, S. 373.

[43]Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, a. a. O., S. 902.

[44]W. I. Lenin, a. a. O., S. 301 und 303.

[45]Siehe Anm.3.

[46]Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 114 und 113.

[47]Karl Marx/Friedrich Engels, Rezensionen aus der „Neuen Rheinischen Zeitung“, in: MEW, Bd. 7, S. 288.

[48]Georg Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, a. a. O., Bd. 13, S. 325.

[49]Johann Gottlieb Fichte, Briefwechsel, hrsg. v. H. Schulz, Leipzig 1930 (reprographischer Nachdruck Hildesheim 1967), Bd. 1, S. 157.

[50]Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, a. a. O., S. 192.

[51]Was Gramsci und Stalin betrifft, sei verwiesen auf D. Losurdo, Stalin. Storia e critica di una leggenda nera, Roma 2008. (Deutsche Ausgabe: „Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende”, Köln [papyrossa] 2011, im Erscheinen; Anm. der Red.).

[52]Arthur M. Schlesinger jr., Four days with Fidel: A Havanna Diary, in: The New York Review of Books v. 26. 3. 1992, S. 25.

[53]Deng Xiaoping, Selected Works, Beijing, Foreign Languages Press, 1992-1995, Bd. 2, S. 196; Bd 3, S. 166f.

[54]Ebd., Bd. 3, S. 285.

Domenico Losurdo