Davon profitierten in hohem Maße auch Frauen. Obwohl er selbst die Fäden der Macht fest in Händen behielt, sorgte die Einführung basisdemokratischer lokaler Institutionen dafür, dass die Stämme und Regionen auch eine gewisse Autonomie behielten.
Die anfangs bis in den Kleinhandel verstaatlichte Wirtschaft – was für arabische Länder einzigartig war – wurde ab 2002 schrittweise privatisiert, was zu einem deutlich ansteigenden Wachstum, aber auch ausufernder Korruption führte.
Da Gaddafi jahrzehntelang versuchte, mit seinen Petrodollars eine antiimperialistische Front in Afrika zu errichten, gehörte er zu den von westlichen Regierungen meist gehassten Staatschefs. Zum ersten militärischen Schlagabtausch kam es 1986. Nachdem zwei libysche Kriegsschiffe von USA-Kreuzern versenkt worden waren, erklärte Präsident Reagen den Anschlag auf die von amerikanischen Militärs frequentierte Berliner Diskothek La Belle zu einer libyschen Racheaktion. Darauf folgten Luftangriffe der USA auf Tripolis und Bengasi, bei denen Gaddafi selbst nur durch Zufall nicht umkam. 1989 drohte die im Mittelmeer liegende 6. Flotte eine Chemiefabrik zu bombardieren, die nach libyscher Darstellung Arzneimittel, aus amerikanischer Sicht aber Giftgas für einen Angriff auf Israel produzieren sollte. Gaddafi ließ die Anlage abbauen. Obwohl er auch 1999 für das Flugzeugattentat von Lockerbie verantwortlich gemacht wurde, unterhielten insbesondere Frankreich und Italien, die viel libysches Öl importierten, weiterhin intensive Beziehungen zu dem nordafrikanischen Land. Dem ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy steht noch ein Prozess bevor, weil er von Gaddafi Gelder für seinen Wahlkampf entgegen genommen haben soll.
Schon 1981 gründeten libysche Oppositionelle die Nationale Front für die Rettung Libyens, zu der 1987 auch der Oberbefehlshaber der libyschen Armee, Chalifa Haftar stieß, nachdem er im Tschadkrieg gefangen genommen und von den USA befreit worden war. Er arbeitete fortan mit dem CIA zusammen, der ihm ermöglichte, in Virginia ein militärisches Trainigscamp für den Kern einer ´Libysche Nationalarmee` zu organisieren.
Seit den neunziger Jahren führte die LNA und andere kleine, oft islamistisch ausgerichtete oppositionelle Verbände Anschläge in Libyen durch – 1996 misslang ein Attentat auf Gaddafi. Und sie versuchten auch, an verschiedenen Orten, insbesondere in der Kyrenaika, Aufruhr zu entfachen. Maßgeblich waren sie an der Vorbereitung des Aufstands beteiligt, der 2011 als Dominostein des Arabischen Frühlings auf die Umstürze in Tunesien und Ägypten folgte. Als es im Januar und Februar auch auf dem zentralen Platz in Bengasi zu allabendlichen Protestkundgebungen kam, wurde vor allem die sehr aktive Unterstützung des Emirats Katar und seines damals in der ganzen arabischen Welt einflussreichen TV-Senders Al Dschasira medial sichtbar. Die Demonstrationen weiteten sich auf andere Städte aus und bald kam es auch zu bewaffneten Konflikten zwischen der regulären Armee und offenbar ausgezeichnet vorbereiteten Rebellen. Schon am 20. Februar fiel Bengasi unter ihre Kontrolle, später auch andere Städte, die jedoch zum Teil von der Armee zurückerobert wurden.
Als im März internationale Medien verbreiteten, dass Gaddafi Bodentruppen und auch die Luftwaffe zur gewaltsamen Rückeroberung Bengasis einsetzen wollte, kam es zur Krisensitzung in der UNO. Während sich die Afrikanische Union für eine politische Lösung aussprach, schlug die Arabische Liga vor, eine Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung einzurichten. Am 17. März 2011 kam es im UNO-Sichherheitsrat zur Resolution 1973, mit der eine Flugverbotszone legitimiert wurde, nicht aber eine Besetzung des Landes durch ausländische Truppen mit dem Ziel eines Regimewechsels. Angenommen wurde die Resolutionen mit den Stimmen der USA, Großbritanniens, Frankreichs sowie der nichtständigen Mitglieder Bosnien, Herzegowina, Portugal, Gabun, Nigeria, Kolumbien und des Libanon. Neben Russland, das vergebens vorgeschlagen hatte, zunächst eine Resolution über einen Waffenstillstand zu verabschieden, enthielten sich China, Indien, Brasilien und Deutschland. Außenminister Guido Westerwelle erklärte hellsichtig, dass sich Deutschland nicht an einem die Flugverbotszone erzwingenden Militäreinsatz beteiligen wolle, um nicht zur „Kriegspartei“ in einem drohenden „Bürgerkrieg“ zu werden. Allerdings schlug er vor, die Regierung Gaddafi mit Sanktionen zu belegen. Und er gab bekannt, den am 27. Februar gegründeten Nationalen Übergangsrat kontaktiert zu haben, der sich als Gegenregierung Libyens verstand und am 16. September von vielen Staaten als offiziell anerkannt werden sollte.
Am 19. März begannen massive Luftangriffe der NATO-Staaten Frankreich, USA, Kanada und Großbritannien. Am 22. März folgte eine Seeblockade, die ein Waffenembargo gegen die reguläre Streitkräfte durchsetzte. Die USA erklärten, dass die Resolution 1973 hingegen erlaube, die Rebellen mit Waffen zu versorgen.
Durch massive externe Unterstützung verdrängten die Rebellengruppen nach und nach die reguläre Armee. Ende August verlor sie auch die Kontrolle über Tripolis. Und am 20. Oktober wurde Gaddafi gefangengenommen, als er in einem Autokonvoi aus seiner Heimatstadt Sirte fliehen wollte. Wer für seine anschließende Folterung und Tötung verantwortlich war, blieb ungeklärt.
Der türkische Premier Tayyipp Erdogan bereiste Mitte September Ägypten, Tunesien und Libyen, wo er für die im Gefolge des ´Arabischen Frühlings` erwarteten demokratischen Errungenschaften werben und seine Unterstützung anbieten wollte. Um ihm vor seinem Eintreffen in Libyen die Show streitig zu machen, trafen Sarkozy und der britische Premier David Cameron am 15. September zu einem Blitzbesuch in Tripolis und Bengasi ein. Sie wurden begeistert begrüßt von tausenden Libyern, die hofften, ihr seit Jahrzehnten isoliertes und geächtetes Land würde endlich anerkanntes Mitglied der internationalen Gemeinschaft werden. Sie ahnten nicht, dass sie Repräsentanten von Staaten empfingen, die – im Reigen mit weiteren Anwärtern wie Italien und den USA – bis heute ungehemmter denn je um libysches Öl konkurrieren und weder den Wiederaufbau noch die katastrophal abstürzenden Lebensverhältnisse im Blick haben würden.
Schon 2011 zeigte sich, dass die menschenrechtlichen Folgen des Regimewechsels unkalkulierbar waren. Bereits im April brach in manchen Gebieten die Versorgung zusammen. Hunderttausende Gastarbeiter verloren ihre Arbeit und saßen wegen der Seeblockade fest. Besonders Afrikaner wurden von den Milizen beschuldigt, als Söldner in Gaddafis Truppen gedient zu haben und wurden zu hunderten massakriert. Ein Teil der enormen Waffenvorräte wurden über die südlichen Grenzen in andere Staaten verschoben und ermöglichten dort den Aufbau von Milizen, was bald zum Bürgerkrieg in Mali führte.
Und auch der politische Neuanfang misslang. Die Rebellen hatten stark divergierende Zukunftsideen. Ein Teil wollte die Monarchie erneuern, andere die islamische Scharia einführen. Chalifa Haftar, der zunächst Oberkommandierender der neuen Streitkräfte wurde, wandet sich gegen die erstarkten islamistischen Kräfte und wurde schnell abgesetzt. Während Tripolitanien in unkontrollierbare Einflusszonen von Milizen zerfiel, gelang es ihm in der Kyrenaika, die LNA zu einer disziplinierten militärischen Kraft zu organisieren, die mit einem in Tobruk installierten Parlament kooperierte und Vorformen staatlicher Ordnung schuf.
* Diese Chronik erschien unter dem Titel ´2011: Bomben auf Tripolis` in: Der Freitag no 16 v. 22. 4. 2021, S. 12.