Eindrücke aus Algier: Bürgerbewegung erzwingt eine Transition

Eindrücke aus Algier: Bürgerbewegung erzwingt eine Transition
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Die Präsidentschaftswahlen vom 12. Dezember in Algerien waren zwar verfassungskonform, aber  vom Oberbefehlshaber der Armee Gaïd Salah gegen den Willen einer breiten Volksbewegung durchgesetzt worden. Damit hat die schon zehn Monate währende politische Dynamik in dem  Maghrebstaat einen neuen Höhepunkt erreicht. Vielleicht auch einen Wendepunkt.

 

Der ´Hirak`– so nennt sich die Bürgerbewegung, die im März den Rücktritt des schwerkranken Präsidenten Abdelaziz Bouteflika von einem 5. Mandat erreichte – wollte Neuwahlen nur nach einer Phase der demokratischen Transition zustimmen. Es sollte sichergestellt werden, dass die Hebel der Staatsmacht nicht in dem als korrupt geltenden Machtzirkel Bouteflikas weitergereicht würden. In allen großen und auch vielen kleineren Orten Algeriens fanden jeden Freitag mächtige Demonstrationen für eine solche Transitionsphase statt.

Europäische Medien, die Algerien eine Militärdiktatur nennen und von einem gerade erst entbrannten Kampf um Demokratie und Rechtsstaat sprechen, werden dem Entwicklungsstand des politischen Systems nicht gerecht. Zwar hat der Blogger Ahmed Bensaada überzeugend belegt, dass die für Algerien sehr neuartige Organisation des Hirak als strikt gewaltfreie Volksbewegung von internationalen Stiftungen beeinflusst und – allerdings in geringem Maße – auch finanziert wurde, u. a. vom US-amerikanischen National Endowment for Democracy das acht Jahre zuvor auch an der Modellierung des arabischen Frühlings u. a. in Tunesien und Ägypten beteiligt war. Aber dieser Einfluss betrifft  vor allem die gewaltfreie Bewegungsform und einen Teil der pauschalen Forderungen wie die nach einem kompletten „Systemwechsel“. Dominant war jedoch die stets vorgebrachte Losung, dass sich keine ausländischen Mächte  in den Konflikt einschalten dürfen. Darin sind sich – trotz der tiefen Antagonismen – Volk und Armee einig. 

 

Dass sich der Hirak überhaupt entwickeln konnte, hing nicht nur von den Kommunikationsmöglichkeiten der sozialen Medien ab. Es ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es seit 1988 in Algerien Assoziationsfreiheit und eine unzensierte private Presse gibt, die bei der Aufdeckung von Korruptionsskandalen die Staatsmedien vor sich hertreibt und schon gegen das 3. und 4. Mandat Bouteflikas agitierte. Wenn die private Presse antiimperialistisch argumentiert, liegt das an einem Gesetz, wonach ausländische Medien weder Besitzer noch Teilhaber algerischer Medien sein können.  

 

Es entspricht nicht der gängigen Vorstellung von einer Militärdiktatur, dass die Ordnungskräfte den allwöchentlichen friedlichen Demonstrationen ebenfalls weitgehend friedlich gegenüber traten. In den ersten Monaten kam es zu zahlreichen Verbrüderungen von Polizisten und Soldaten mit den Demonstranten. Und es gab eine beispiellose Verhaftungswelle von Personen aus dem engsten Umkreis Bouteflikas: sie betraf u. a. seinen Bruder, der als eigentlicher Drahtzieher der Regierungsgeschäfte galt sowie die zwei Chefs der wichtigsten Geheimdienste und auch führende Unternehmer und Militärs.

 

Die Demonstranten nahmen jedoch nicht zu Unrecht an, dass diese Strafmaßnahmen nur jenen Teil der Mächtigen trafen, der versucht hatte, die Abdankung Bouteflikas mit einem Putsch gegen den ihm nahestehenden Oberbefehlshaber der Armee, Gaïd Salah, zu verbinden. Dem war der General zuvorgekommen.   

 

Dass seitdem nicht die provisorische Regierung, sondern Gaïd Salah die Macht innehatte, zeigte sich nicht nur durch tägliche martialische Ansprachen im Staatsfernsehen, in denen er die Verteidigungsfähigkeit der Armee hervorhob und auf baldige Wahlen drang. Er hielt aber auch die  Machtbalance aufrecht. Es fiel kein Schuss und es herrschte jeden Freitag weiterhin landesweit jene aufgeräumt-fröhliche Stimmung, die Revolutionen in ihrer aufsteigenden Phase charakterisiert. Dass dieses  friedliche Revolutionsglück zehn Monate anhielt, gab den Menschen das Gefühl von Stärke und Macht, von Unbesiegbarkeit. Unverdrossen forderten sie auch den Rücktritt von Gaïd Salah und eine echte, transparente Übergangsphase.

 

Obwohl etwa 200 Aktivisten des Hirak verhaftet wurden, bezeugt die weitgehende Gewaltlosigkeit dieser Konfrontation einen bemerkenswerten Prozess politischen Aushandelns. Er ist der Lehre zu verdanken, die sowohl die Bevölkerung als auch Armee und Polizei aus dem blutigen Bürgerkrieg der neunziger Jahre gezogen haben. Obwohl die übergroße Mehrheit der Bevölkerung gläubig ist und der Hirak seine größte Breite nach dem Freitagsgebet gewinnt, konnte die Bewegung nicht von Islamisten gekapert werden. Trotz einiger Versuche, Frauen am Demonstrieren zu hindern, gelang es ihnen nicht, die beeindruckende Präsenz von Weiblichkeit jeden Alters und sozialer Schicht im Hirak zu mindern.              

 

Da alle fünf von der Wahlkommission ausgesiebte Präsidentschaftskandidaten einmal zum alten Machtzentrum gehört hatten, waren auch am 6. Dezember, am Freitag vor den Wahlen,. volksfestartige Großdemonstrationen inmitten engmaschiger Polizeispaliere zu erwarten. Vom Balkon unserer am Boulevard Télemly liegenden  Familienwohnung aus, hat man einen umfassenden Blick auf  die Bay von Algier und die Unterstadt, über der mehrere Hubschrauber knatterten. „Um die Demonstranten einzuschüchtern“, meinte mein Schwager Slimane. Das war allerdings aussichtslos, denn mächtige Geräuschwogen des 42. Hirak, der zum Generalstreik gegen die Wahlen aufrief, drangen auch bis zu uns empor. Später liefen wir abwärts in Richtung Universität – in den achtziger Jahren mein Arbeitsplatz – dann durch die Rue Mulhouse, die damals  oft durch mächtige Demonstrationen von Islamisten blockiert war. Jetzt standen am Zaun der Universität dichte Ketten von Polizisten und Polizistinnen. Ihre Gesichter waren entspannt, es gab offensichtlich keine Order zu hartem Eingreifen. Von links, auf halber Höhe kam uns ein Zug junger Leute aus Bab el Oued entgegen, um sich mit der Hauptdemonstration auf dem Boulevard Didouche Mourad zu vereinen.

 

Zwischen Großer Post und Place Audin pendelnd, pflanzten wir uns schließlich am unteren Eingang der Zentralfakultät auf. Vorbei zogen mal kompakte, dann wieder lockere Gruppen von Demonstranten. Viele hatten sich die Nationalfahne umgebunden und trugen kleine rote Plakate mit einem großen ´La`, was arabisch ´Nein` bedeutet und zum Wahlboykott aufrief. „Bürgerstaat – kein Militärregime“ war einer der wichtigsten, immer wieder skandierten Slogans. Auf einem der vielen selbstgefertigten Plakate las ich in fünf Sprachen: „Gegen den Kapitalismus“. Auch einige riesige, 3x3 m² große Fahnen waren mit eindeutig algerischen Motiven bedruckt, z. B. mit einem historischen Foto der Massendemonstration am Tag der Unabhängigkeit 1962. Jetzt wird eine neue Unabhängigkeit gefordert, weil sich die politische Klasse, ähnlich wie einst die Kolonialmacht, an den Ressourcen des Landes bereichert. Der globalisierte Neoliberalismus hat auch in Algerien die in den ersten unabhängigen Jahrzehnten errichteten sozialstaatlichen Strukturen zurückgedrängt und  eine kapitalistische Primärakkumulation entfesselt, die für die Mächtigen eine starke Versuchung darstellt, über ihre Familienangehörigen in die Klasse der Global Players aufzusteigen.

 

Am selben Abend fand im Staatsfernsehen eine Vorstellungsrunde der fünf Präsidentschaftskandidaten statt, die allenfalls in der Frage, inwieweit Staat und Religion künftig noch miteinander verflochten sein sollten, leicht voneinander abwichen. Auf zahme Journalistenfragen antworteten alle, dass sie sich für eine neue, korruptionsfreie Ära einsetzen wollten. Ein Kreuzfeuer detaillierter Argumente blieb aus. Bemerkenswert ist aber, dass keiner der Kandidaten der diskreditierten alten Revolutionspartei FLN angehört – deren Traditionen beansprucht jetzt der Hirak.   

 

Zwei Tage vor der Wahl, am 10. Dezember fand der Korruptionsprozess gegen zwei ehemalige Ministerpräsidenten, Ahmed Ouyahia und Abdelmalek Sellal, etliche Exminister und Unternehmer statt. Das wurde als Manöver erkannt, um die Wahllaune zu heben, was auch die Anwälte der Beschuldigten unterstrichen. Sie boykottierten den Prozess, weil sie nicht genug Zeit gehabt hatten, die Akten zu studieren. Dennoch wurde Ouyahia zu 15 Jahren und Sellal zu 12 Jahren Haft verurteilt, zwei ehemalige Industrieminister zu jeweils 10 Jahren und der flüchtige Industrieminister Abdeslam Bouchouareb sogar zu 20 Jahren. Der Ex-Präsident des Arbeitgeberverbands Ali Haddad, der versucht hatte, sich über Tunesien abzusetzen, bekam 7 Jahre. Drei Direktoren einer Autofabrik müssen ebenfalls ins Gefängnis. Auch Algeriens größter Unternehmer, Issad Rebrab, wartet in Untersuchungshaft auf seinen Prozess. 

 

In die zum Ritual des Hirak gehörende Dienstagsdemonstration der Studenten hatten sich am 10. Dezember auch viele ältere Männer und Frauen gemischt, weshalb sie umfangreicher als gewöhnlich ausfiel. Wieder war die Stadt voller Polizei. Mir schien diese Demonstration entschlossener, ernster, sogar mit einem Anflug von Verzweiflung: „Eure Wahlen haben keine Bedeutung für uns!“ wurde skandiert. „ Haut ab! Die Wahl ist nicht legitim!“ Dem Aufruf zum Generalstreik waren etwa 70% der Läden gefolgt.

 

Am normalerweise demonstrationsfreien Mittwoch, dem Tag vor der Wahl, fanden landesweit ebenfalls Märsche statt. 

 

Um Wähler zu aktivieren, zeigte das Staatsfernsehen am 12. Dezember von früh bis spät Aufnahmen aus Wahlbüros im ganzen Land, die allerdings die geringe Beteiligung nicht verbergen konnten. Offensichtlich wählten vor allem ältere Staatsangestellte. Über französische Sender verbreitete Videos aus sozialen Medien zeigten, dass in der Kabylei Wahlurnen entwendet und ihr Inhalt dem Wind überlassen worden war. Die Aufnahmen stammten aus Bejaïa, wo es kompakten Hirak-Gruppen gelang, nicht nur Wahlbüros für Bürger lahm zu legen, sondern auch Gebäude zu blockieren, in denen Polizisten oder Militärs wählen sollten. Wegen massiver Behinderungen betrug die Wahlbeteiligung laut offiziellen Angaben hier nur 0.21%.[1]

 

Landesweit betrug sie offiziell knapp 40%. Sie war im Süden und im Westen höher als im traditionell rebellischeren Osten und in der Hauptstadt. Mit 58% der abgegebenen Stimmen setzte sich Abdelmadjid Tebboune durch. Der neue Präsident hatte unter Bouteflika mehrere Ministerämter innegehabt und war zwischen Mai und August 2017 Ministerpräsident gewesen. Ehemals Kader der FLN, war er nun als Parteiloser mit dem Versprechen angetreten, nicht und falsch genutzte Investitionsgelder sowie illegale Vermögen aus dem Ausland in die Staatskasse zurückzuholen. Eklatanter Webfehler seiner Kandidatur war, dass sein Sohn wegen Verstrickung in eine Affaire um 700 Kg Kokain, die 2018 im Hafen von Oran requiriert wurden, in Untersuchungshaft sitzt. 

 

Am Tag nach der Wahl, brandete der 43. Hirak auf. „Tebboune – Kokain“ wurde immer wieder skandiert. Mir wurde ein weißes Pülverchen angeboten, das sich viele als Spaß-Kokain sichtbar unter die Nase rieben.

 

In seiner ersten Rede ging der Präsident auf den Hirak ein: In der neuen Regierung werde es etliche jungen Leute unter dreißig und viele Frauen geben. Am Text einer neuen Verfassung solle selbstverständlich auch der Hirak mitwirken.

 

Tebboune erhielt Glückwünsche von zahlreichen Ländern, darunter auch die USA, Russland, China und Deutschland. Trotz der offensichtlichen Manipulation der Wahl, will sich wohl niemand mit diesem – trotz seiner internen Antagonismen – nach wie vor antiimperialistisch eingestelltem Volk anlegen, hinter dem die größte Militärmacht Afrikas steht.

 

Direkt nach Erreichen seines Ziels, einen neuen Präsidenten zu installieren, ereilte den schwer  übergewichtigen Gaïd Salah am 23. Dezember ein tödlicher Herzinfarkt. Noch nie war für einen Oberbefehlshaber der Armee ein ähnlich pompöses Staatsbegräbnis organisiert worden. Am 25. Dezember folgten dem durch die Straßen der Hauptstadt fahrenden Katafalk mehrere tausend rennende Menschen. Ein Signal an den Hirak, dass ein Teil der Algerier Salahs Rolle als Garant der Stabilität sah, in einer – laut dem Politologen Mohamed Hennad – zweifellos längst angebrochenen Periode der Transition. Um Vertrauen aufzubauen, müsse der Präsident jedoch vor allem die politischen Gefangenen freilassen[2]

 

Tatsächlich werden täglich inhaftierte Hirak-Aktivisten entlassen. Am 28. Dezember berief Tebboune den Universitätsprofessor für Internationale Beziehungen Abdelaziz Djerad zum  Premierminister, der seit 2003 wegen Gegnerschaft zu Bouteflika keine Verwaltungsfunktionen innehatte und daher ein akzeptabler Partner für den Hirak werden kann.

 

* Dieser Artikel erschien unter dem Titel Erzwungener Wandel. Algerien: Bürgerbewegung hat alte Strukturen aufgebrochen. Neuer Präsident unter Zugzwang. Eindrücke aus Algier. In: Junge Welt v. 4. 1. 2020.


[1]K. Medjdoub: Béjaïa non concernée. In: El Watan, 14. 12. 2019, S. 5.

[2]Mohamed Hennad: https://www.elwatan.com/edition/actualite/le-hirak-nest-pas-cense-designer-des-representants-le-faire-est-une-aventure-suicidaire-26-12-2019 – abgerufen: 28. 12. 2019.

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