Syrien – Ein eingefrorener Konflikt unter Feuer

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Syrien will nur ein ganz normaler Staat sein. Das ist den Meldungen der Syrischen Nachrichtenagentur zu entnehmen, die zum Jahresende über Wirtschaft, Politik und Tourismus berichten.

In Hama konnte dank „nationaler Anstrengungen und Fachwissen“ das Schmelzwerk der Gesellschaft für Eisen- und Stahlproduktion wieder in Betrieb genommen werden. Das Werk umfasst demnach zwei Schmelzöfen mit einer Produktionskapazität von etwa 400 Tonnen pro Tag und kann 120 Tonnen Stahlknüppel produzieren.

Das Landwirtschaftsministerium gab die Jahreszahlen für die Weizen-, Gerste- und Maisernten „in sicheren Gebieten“ bekannt. Mit „sicheren Gebieten“ sind die Gebiete gemeint, die unter syrischer Kontrolle stehen. Keine offiziellen Zahlen gibt es aus dem Nordosten, wo die von Kurden geführten syrischen Demokratischen Kräfte Baumwolle und Weizen selber u.a. im Nordirak und von dort in der Türkei vermarkten. Dort befinden sich – neben den größten Ölfeldern – auch die größten Weizen- und Baumwollreserven Syriens. Auch aus Afrin und Idlib liegen keine offiziellen Zahlen vor. In Idlib werden vor allem Oliven und teilweise Weizen und Pistazien von der Al-Qaida-nahen „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS, Front zur Befreiung der Levante) in die Türkei vermarktet. In Afrin sind es vor allem Oliven und Obst, das von mit der Türkei verbündeten Regierungsgegnern ebenfalls in der Türkei vermarktet. Die seit Jahrhunderten in Afrin und seinen rund 300 Dörfern lebende kurdische Bevölkerung war Anfang 2019 von der türkischen Armee vertrieben und das Land besetzt worden.

Für die „sicheren Gebiete“ meldete das syrische Landwirtschaftsministerium für das vergangene Jahr 1,93 Millionen Tonnen Weizen, 409.000 Tonnen Gerste und 561.000 Tonnen Mais eingefahren. 15.000 Tonnen Baumwolle wurden geerntet und in landesweit 178.593 Gewächshäusern wurden Gemüse und Bananen angebaut. 380.604 Tonnen Oliven, 195.650 Tonnen Weintrauben, 216.181 Tonne Äpfel und 841.255 Tonnen Zitrusfrüchte wurden geerntet.

Das Tourismusministerium teilte mit, dass trotz herausfordernder Rahmenbedingungen – Erdbeben im Februar 2023, Angriffe Israels auf die Flughäfen von Damaskus und Aleppo und der Krieg in Gaza - die Zahl der Touristen im Jahr 2023 gegenüber dem Vorjahr um 20 % gestiegen sei. 1,75 Millionen Besucher kamen demnach aus arabischen Länder und 250.000 aus anderen Ländern wie Russland, Pakistan, Iran und Indien. Die Zahl der Auszubildenden im Hotel- und Tourismusgewerbe wird mit 5.500 angegeben.

Alle Zahlen liegen weit hinter denen zurück, die das Land vor dem Krieg 2011 melden konnte. Die Kriegsfolgen, die Abtrennung von Gebieten und das damit verbundene „land-grabbing“, der Landraub, permanente ausländische Einmischung und Besatzung nationaler Ressourcen und syrischen Territoriums, wirtschaftliche und finanzielle „einseitige Strafmaßnahmen“ seitens der EU und den USA knebeln Syrien seit 13 Jahren.

Ein „eingefrorener“ Konflikt

Auf internationaler Ebene wird im UN-Sicherheitsrat und zahlreichen UN-Untergremien ebenso lange regelmäßig über die politische und humanitäre Lage, über angebliche Chemiewaffen in Syrien und Menschenrechtsverletzungen geredet, doch nie werden Fortschritte vermeldet. Die mit den USA verbündeten Vertreter beschuldigen seit Jahren Syrien Fortschritte zu blockieren. Syrien hält diesen Staaten die fortgesetzte Verletzung der Souveränität Syriens, völkerrechtswidrige Besatzung syrischen Territoriums und Sanktionsmaßnahmen sowie die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Syriens vor.

Gespräche zwischen ausgewählten Teilen der syrischen Opposition und zivilgesellschaftlichen VertreterInnen, die mit der syrischen Regierung unter dem Dach der UNO in Genf entsprechend der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 über eine neue Verfassung und Neuwahlen verhandeln sollen, stocken seit Jahren.

Syrien gilt als eingefrorener Konflikt. Keiner der Akteure lenkt ein und zahlreiche Akteure – insbesondere EU, USA und regionale Partnerländer - scheinen auch gar nicht mehr an Lösungen interessiert zu sein. Die anhaltende Notlage und Instabilität bieten Raum für eigene Interventionen und dienen den Interessen von EU und USA mehr, als dass sie schaden.

Den Schaden hat die syrische Gesellschaft, die in nicht bezifferter Höhe für die Folgen des Krieges und des Wirtschaftskrieges bezahlen muß. Den Schaden hat die Natur, die im militärischen Konflikt und bei der unprofessionellen Ausbeutung von Ressourcen verwüstet wird. Den Schaden hat das politische syrische System, das keinen Raum für Veränderungen hat. Den Schaden tragen die Nachbarländer Syriens, die Millionen Flüchtlinge aufgenommen haben, ohne den Menschen eine Zukunftsperspektive oder die Rückkehr in Würde anbieten zu können. Wirtschaftlich, politisch und humanitär bezahlt die ganze Region für die Folgen aller Kriege, die von den USA mit ihren Verbündeten in den Ländern der Region initiiert und befeuert werden. Ob Irak, Jemen, Syrien, Libanon, Libyen oder Gaza – es geht um die Kontrolle von Land, Ressourcen und Transportwegen.

UN warnt vor Ausweitung des Krieges gegen Gaza

Bei der letzten Sitzung im UN-Sicherheitsrat zur (politischen und humanitären etc.) Lage in Syrien faßte der UN-Sonderbeauftragte das Jahr 2023 knapp zusammen: Syrien erlebte ein verheerendes Erdbeben, die Zunahme der Not, die Wirtschaft im Absturz und die schlimmste Gewalt seit drei Jahren, sagte Geir O. Pedersen (am 21.12.2023). Es habe zwar regionale diplomatische Annäherungen gegeben, doch für das Leben der einfachen Syrer habe sich nichts verändert. Der Krieg in Gaza bedrohe die ganze Region mit einer Ausweitung des Krieges. Israel bombardiere in allen Landesteilen Syriens. Wiederholte Angriffe auf die Flughäfen von Damaskus und Aleppo hätten zu einem Stillstand des zivilen Flugverkehrs und auch der UN-Hilfslieferungen für das Land geführt. Raketenbeschuss auf die (von Israel) besetzten syrischen Golan-Höhen habe zugenommen, auch als Reaktion auf Angriffe der israelischen Streitkräfte auf Syrien. Nahezu tägliche fänden Angriffe auf die US-Militärbasen im Nordosten Syriens statt.

Pedersen wies auf weitere Kämpfe hin. In dem von der Terror-gelisteten Hayat Tahrir al Scham (HTS) kontrollierten Idlib und im türkisch besetzten Afrin finden frontlinienüberschreitend Gefechte zwischen der syrischen Armee und HTS statt, Ortschaften werden diesseits und jenseits der Frontlinie bombardiert. HTS und Verbündete setzen Drohnen gegen Stellungen der syrischen Armee ein. Dabei wurden Ende September bei einer Abschlussfeier für junge Offiziere unweit von Homs mehr als 100 Offiziere und ihre Angehörigen getötet. Die Türkei und Verbündete im syrisch-türkischen Grenzgebiet greifen im Nordosten Syriens die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) mit Drohnen an und töten gezielt politische und militärische Führungspersonen. Die SDF greifen ihrerseits türkische Armeestellungen an. Grenzübergreifende Angriffe gibt es aus Jordanien auf Schmuggler im jordanisch-syrischen Grenzgebiet.

Was für die ausländischen Besatzungstruppen USA und Türkei geostrategisch von Vorteil sein mag, wirkt sich auf den Wiederaufbau Syriens, auf die Versöhnung und die politische und wirtschaftliche Stabilisierung verheerend aus. Syrien wird der Zugang zu den nationalen Ressourcen wie Wasser, Öl, Gas, Weizen, Baumwolle und Oliven verwehrt. Syrien kann seine Grenzen im Norden, im Osten und Südosten nicht selber kontrollieren, weil sie von HTS, von der Türkei, von ehemaligen bewaffneten Regierungsgegnern, den Kurden und/oder den US-Truppen kontrolliert werden.

Multipolare Weltordnung entsteht im Nahen und Mittleren Osten/Westasien

Eine Wende war mit dem Erdbeben Anfang Februar eingetreten. Während EU und USA an ihrer sanktionsgestützten Politik zur Einhegung von Syrien beibehielt, begann die arabischen Golfstaaten – die lange die bewaffnete Opposition gegen Damaskus unterstützt hatten – eine eigene „Erdbebendiplomatie“. Neben Flugzeugladungen von Hilfsgütern, finanzieller und personeller Hilfe für Syrien, fanden zahlreiche Treffen auf hochrangiger Regierungsebene statt. Syrien wurde eingeladen, wieder an den Sitzungen der Arabischen Liga teilzunehmen und der syrische Präsident Bashar al-Assad reiste im Mai nach Jeddah, wo er vom saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (MBS) begrüßt wurde. Syrien wird zunehmend wieder in regionale und internationale Treffen integriert, die von der EU und den USA erzwungene Isolation des Landes bröckelt.

Im September reise Assad mit einer hochrangigen Delegation nach China, wo mit dem chinesischen Präsidenten eine strategische Partnerschaft und zahlreiche Abkommen beschlossen wurden. Die Integration in das von China aufgebaute Projekt der Neuen Seidenstraße wird perspektivisch Syrien erlauben, jenseits von US-Dollar und Euro, mit anderen Staaten Handel zu treiben.

In der Region wird diese Entwicklung noch von den USA und Europa ausgebremst. Das könnte sich 2024 ändern, denn der Beitritt der Vereinigten Arabischen Emirate und von Saudi-Arabien in das BRICS-Bündnis zum 1.1.2024 auch neue Handelsmöglichkeiten für die Region bietet. Russland, das 2024 den Vorsitz von BRICS übernimmt, hat bereits angekündigt, dass die Frage der Finanzbeziehungen einen vorrangigen Stellenwert im neuen Jahr einnehmen werde.

Hinzu kommt die von China im März 2023 vermittelte neue Kooperation zwischen Iran und Saudi-Arabien, die ihre diplomatischen Absprachen im Krieg Israels gegen Gaza verstärkt haben. Auch die Zukunft Syriens spielt für die beiden Regionalmächte eine wichtige Rolle. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate werben seit der Rückkehr Syriens in die Arabische Liga (Mai 2023) bei den EU für eine Aufhebung der Sanktionen, um Investitionen in den Wiederaufbau des Landes zu ermöglichen. Die EU ist in dieser Frage uneinig. Die deutsche Bundesregierung gehört zu den Blockierern.

Es geht ums Überleben

Die Syrer wollen nur ein ganz normales Leben führen. Das ist Gesprächen mit den einfachen Leuten auf der Straße und mit langjährigen Freunden und Bekannten (der Autorin) zu entnehmen. Ohne finanzielle Hilfe von Angehörigen aus dem Ausland verfügt kaum eine Familie über ausreichend Geld, um Miete, Benzin, die Ausbildung der Kinder, die Rechnungen von Ärzten und Medikamenten zu bezahlen. 90 Prozent der Bevölkerung leben nach Angaben der Vereinten Nationen unter der Armutsgrenze von 1,5 US-Dollar (ca. 1,3 Euro) pro Tag.

Im September reduzierte die syrische Regierung Subventionszahlungen auf zahlreiche Nahrungsmittel und Energieträger. Die Bevölkerung war geschockt. Angesichts der folgenden enormen Preiserhöhungen kam es in der südlichen Provinz Sweida zu Protesten. Vereinzelte Forderungen nach dem „Sturz des Regimes“ blieben ohne Erfolg, zumal die einflussreichen Stammes- und religiösen Führer der Drusen mit dem Staat und seinen Repräsentanten verhandelten. Doch die Lage bleibt angespannt. Die Autorin wartet noch auf die Genehmigung, nach Sweida zu fahren.

Mangels Geld von Seiten der Geberländer – Deutschland ist der zweitgrößte Geber für WFP nach den USA - wird das Welternährungsprogramm (WFP) seine Hilfen für die bedürftigsten der Menschen in Syrien mit Jahresbeginn 2024 einstellen müssen. Kaum Strom, kaum Gas (zum Kochen), hohe Steuern und wiederholte Preiserhöhungen haben die Alltags- und Lebensbedingungen im Laufe des vergangenen Jahres zunehmend verschärft. Der Ausblick auf das neue Jahr fällt angesichts der regionalen und internationalen Spannungen und fortwährender Angriffe Israels auf syrische Infrastruktur und Flughäfen fällt bei den meisten Syrern verhalten optimistisch aus: „Keine Sorge, wir überleben.“

(Karin Leukefeld, Damaskus)