Friedrich - der Große

Friedrich - der Große

Alle reden von Marx, wenige von Engels. Wuppertal immerhin feiert seinen berühmtesten Sohn. Vor 200 Jahren, im November 1820 wurde Friedrich Engels in Barmen geboren, als ältester Sohn des erfolgreichen Textilfabrikanten Friedrich Engels Senior. Wuppertal gab es damals noch nicht, aber in Barmen, in Elberfeld und darum herum war die Industrialisierung schon im Gange.

Friedrich, der Kapitalist

Eigentlich wollte er Schriftsteller und Dichter werden. Aber der Unternehmersohn Friedrich Engels wurde auf Betreiben seines Vaters selbst ein erfolgreicher Manager und Kapitalist. Und zwar im Zentrum der ersten richtigen Weltindustrie, in Manchester, der Hauptstadt der britischen Textilindustrie, die den Weltmarkt beherrschte. Engels war ein richtiger Kapitalist und Manager,   Teilhaber von Ermen & Engels, einer der führenden und weltweit exportierenden Baumwoll-spinnereien in England und Europa. Er war, wenn auch widerwillig, ein „Cotton-Lord“, der fast täglich zur Baumwollbörse in Manchester ging, damals die größte der Welt. Dieser Stammvater des Sozialismus wußte genau, wovon er sprach, wenn er den modernen Kapitalismus kritisierte.

 
Fast verschwindet er hinter dem langen Schatten seines großen Freundes Karl Marx. Was auch an der notorischen Bescheidenheit des Mannes liegt, der sich zeitlebens nur als „zweite Violine“ im Duo Marx – Engels bezeichnet hat. Obwohl er oft genug den Ton angab, oft genug als Pionier voranging und obwohl er nach Marx‘ Tod noch gute zwölf Jahre lang weiterarbeitete. Ohne diesen Engels hätte es den „Marxismus“ nie gegeben, ohne Engels wären die Berge von unvollendeten Manuskripten, die Marx hinterließ, unveröffentlicht geblieben. 

            
Mit fünfzig Jahren war Engels ein gemachter Mann, er konnte dem „hündischen Kommerz“ Ade sagen und sich als Privatgelehrter in London niederlassen. Das Haus 122 Regent’s Park Road in Primrose Hill steht heute noch, eine blaue Plakette weist Passanten darauf hin, dass hier „Frederick Engels, Political Philosopher“ gewohnt hat, von 1870 bis 1894. In Manchester hatte er ein Doppelleben geführt, die gute Gesellschaft durfte nicht erfahren, dass der erfolgreiche Geschäfts-mann auch ein Vordenker des Sozialismus, Mitverfasser des „Manifests der Kommunistischen Partei“, streitbarer Journalist, ehemaliger Offizier in der Badischen Rebellenarmee von 1849 war. In London lebt er das ruhige Leben eines reichen Privatiers, als er 1895 starb, hatte er sein Vermögen fast verdreifacht. Friedrich Engels, der Ex-Fabrikant, war auch ein gewiefter Börsianer. Karl Marx und seine Familie hat er 45 Jahre lang finanziert.

Friedrich, der Kommunist in Gehrock und Zylinder

Als Marx und Engels 1844 zusammentrafen, war der junge Engels gerade dabei, sich als Kritiker der politischen Ökonomie und „Sozialschriftsteller“ einen Namen zu machen. Sein erstes Buch, gleich eins seiner erfolgreichsten, beschrieb die „Lage der arbeitenden Klasse in England“. Engels war es, der die Bedeutung der industriellen Revolution in England erkannte und den Aufstieg einer neuen Klasse, der Fabrikarbeiter der Großen Industrie, auf dem Kontinent bekannt machte. Ebenso wie die verheerenden Folgen der Industrialisierung für die neuen Proletarier und die Umwelt, in der sie leben mussten.

Engels war der erste, der klar erkannte, dass Arbeitsmärkte keine Märkte wie alle anderen sind und moderne Lohnarbeiter sich in einer historisch einzigartigen Form der Abhängigkeit befanden. Sie sind „doppelt frei“, so hat Marx, Engels folgend, das später genannt, frei handelnde Personen und Marktteilnehmer, zugleich Habenichtse, die zum Leben einen Job brauchen, also jemanden, der sie beschäftigen und bezahlen will. Engels hat als einer der ersten die mehr oder minder raffinierten Methoden analysiert, mit denen die menschliche Arbeitskraft im modernen Fabriksystem ausgebeutet wird. Was der Produktivität der Arbeitenden zugute kommt, aber auch dem Gewinn ihrer Beschäftiger und der Akkumulation von Kapital.
Die Gegenbewegung sieht und analysiert der junge Engels auch, 100 Jahre vor Karl Polanyi, dem heute bei linken Intellektuellen mit Abstand beliebtesten Kritiker der politischen Ökonomie. Diese wirkliche Bewegung, die real existierende Arbeiterbewegung in England und bald auch auf dem Kontinent gilt ihm als die Grundlage aller sozialrevolutionären Ideen und Bestrebungen. Also spart er sich das bis heute allseits beliebte Naserümpfen über die Arbeiterklasse und studierte lieber, was diese Arbeiterbewegung so alles an Neuerungen hervorbrachte – Gewerkschaften, Genossen-schaften, soziale Experimente.

Friedrich, der Grüne

 
Engels oder Marx als Öko-Sozialisten zu bezeichnen, ist übertrieben. Aber die Umweltzerstörungen durch den Aufstieg der neuen industriellen Produktionsweise sah Engels genau. Luftverschmutzung, Wasserverschmutzung, Bodenverschmutzung, Raubbau in allen Formen verwüsteten die neuen Industriestädte und -regionen. Engels‘ frühe Schrift wird heute als „Meisterstück ökologischer Analyse“ gepriesen. Nicht zu Unrecht. Der industrielle Kapitalismus auf fossiler Grundlage, so Engels, werde den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur auf die Dauer stören, ja zerstören.
Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft, der unaufhörlichen Jagd nach Ressourcen würden immer wieder Grenzen überschritten. Wie schon beim Abholzen der Wälder im antiken Europa, werde die schwer beschädigte Natur zurückschlagen, ganze Länder und Regionen würden dank der industriell betriebenen Verwüstung unbewohnbar werden.

Soziale und ökologische Frage sind nicht zu trennen, das wußte der junge wie der alte Engels. Die Ärmsten und Schwächsten haben am meisten unter der fortschreitenden Umweltzerstörung zu leiden, sie können den Folgen des ökologischen Raubbaus nicht entkommen. Wachstumszwang und gnadenlose Konkurrenz im Weltmarkt-Maßstab sah er als größtes Hindernis für einen „rationellen“ Umgang mit der Natur. Eine Abkehr vom Raubbau-Regime des industriellen Kapitalismus, so Engels, sei aber erst jenseits des Kapitalismus möglich.                                                            
Ohne Naturwissenschaft und Technologie sei die Dynamik der neuen industriellen Produktionsweise nicht zu begreifen, hat der junge Engels geschrieben. Die Entwicklung der Naturwissenschaften in seiner Zeit studierte er jahrelang. Mit wachsender Skepsis gegenüber der Anmaßung, die Natur beherrschen und besiegen zu wollen. Das würde unweigerlich schief gehen, so Engels, die Natur werde sich immer wieder für solche vermeintlichen Siege rächen. Da der industrielle Kapitalismus samt seiner mörderischen Konkurrenz und seinem falschen Individualismus die Grenzen nicht respektiere, die die Natur ihm setze, müsse er überwunden werden – durch eine andere, und wie er hoffte, höhere Form von Wirtschaft und Gesellschaft.

Friedrich, der Frauenversteher

Engels war ein früher Feminist, der erste, der die historischen Ursprünge des Patriarchats zu bestimmen versuchte. In wenigen Wochen und ziemlicher Eile schrieb er ein Jahr nach Marx‘ Tod den „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, eins seiner berühmtesten und meist kommentierten Bücher. Eine wichtige Entdeckung, wichtig für den Feminismus, wichtig für den wissenschaftlichen Sozialismus, wie er Engels und Marx vorschwebte:  Das Patriarchat war um vieles älter als der moderne Kapitalismus, es war aus der neolithischen Revolution, im Übergang zu Agrikultur und Sesshaftigkeit entstanden. Es hatte daher eine lange Geschichte, fand sich in vielen historischen Formen, lange vor dem Industriezeitalter. Folglich würde es selbst mit der Überwindung des Kapitalismus nicht einfach verschwinden. Ebenso wenig übrigens wie der Staat, auch er viel älter als der moderne Kapitalismus. Für Engels war der Grad der weiblichen Emanzipation der Gradmesser für die allgemein menschliche Emanzipation.
Im viktorianischen England verkündete ein Sozialist die sozialwissenschaftliche Einsicht, dass alle Formen der Familie, also auch die Klein- oder Kernfamilie von Mann-Frau-Kind, historisch seien, historisch vergänglich und veränderbar. Als wissenschaftlicher Sozialist aber weigerte Engels sich, etwas über die zukünftige Form der Familie oder über die Geschlechterverhältnisse im Sozialismus zu sagen. Da war er anders als August Bebel – dessen „Frau und der Sozialismus“ er implizit kritisierte. Wie Ehe und Familie in einer nachkapitalistischen Gesellschaft aussehen würden, das sollten die kommenden Generationen ausmachen, sozialistische Theoretiker hatten sich da nicht einzumischen.

Friedrich, der Politiker

Engels war ein wortgewaltiger und stilsicherer Journalist. Er schrieb über so gut wie alle großen politischen Konflikte und Kriege seiner Zeit. Von militärischen Dingen verstand er viel, so viel, dass er den Charakter der kommenden Kriege als industrielle Weltkriege genau voraussagen konnte.

Parteimitglied war er nur kurz, politische Ämter hatte er nur selten und für kurze Zeit inne. Dafür wurde er auf seine alten Tage zum Mentor und Ober-Guru der sozialistischen Bewegung in Europa und darüber hinaus. Mit wachsendem Erfolg verbreitete er seine und Marx‘ Auffassungen, das „Erfurter Programm“ der SPD von 1891 war das erste klar „marxistische“ Programm einer Massenpartei, damals der stärksten sozialistischen Partei der Welt.  
Ohne Utopien kommt keine große soziale Bewegung aus. Auch nicht ohne Überzeugungen und Werte. Was den Sozialismus zur „Wissenschaft“ machen sollte, war die wohlbegründete Einsicht in die jeweils unterschiedlichen „sozialistischen Möglichkeiten“ von heute und morgen. Ebenso wie die mitunter bittere Erkenntnis, dass Revolutionen nicht beliebig gemacht und Sozialismen mitunter unmöglich sein können. Die Frage nach den „Voraussetzungen“ ließ sich nicht wegwischen.   
So wie sich die Frage nach der Alternative, nach den Gestaltungen der zukünftigen Wirtschaft und Gesellschaft jenseits des Kapitalismus wissenschaftlich nicht eindeutig und vor allem nie abschließend beantworten ließ. „Wir haben kein Endziel“, antwortete Engels 1893 im Interview, „wir sind Evolutionisten“. Jeder Schritt über den Kapitalismus hinaus führt nicht ins gemachte Bett der besten aller Welten, sondern ins freie Feld, wo experimentiert, ausprobiert, umgebaut werden muss. Mit dem Risiko des Scheiterns. Deshalb war Engels, der alte 1848er, ein demokratischer Sozialist. Heute, so schrieb er 1895, sind Revolutionen nicht mehr möglich als Kommandounternehmen kleiner Avantgarden. Heute geht es darum, dass die große Masse selbst begriffen hat, worum es geht und worauf sie sich einlassen will. Sozialistische Diktaturen sind kontraproduktiv, im besten Fall.

                        
Lohnt es sich heute noch, Friedrich Engels zu lesen? Sicher, denn er war kein Systembauer, kein Ideologe, ganz sicher kein Positivist, auch kein Marx-Esoteriker. Für das, was die Sozialisten und Marxisten mit seinem und Marx‘ Erbe veranstaltet haben, kann er nicht haftbar gemacht werden. Denn dem meisten, was in diesen Kreisen als orthodox galt, hat er ausdrücklich widersprochen. Von Engels, dem 200-Jährigen, kann man heute noch lernen, was treffende Kapitalismuskritik ist und wie man die Ambivalenzen der kapitalistischen Entwicklung im Kopf aushält. Man kann von ihm lernen, was theoriegeleitete empirische Sozialforschung ist. Man kann von ihm heute noch lernen, was es heißt, historisch und interdisziplinär zu denken, furchtlos und ohne falsche Ehrfurcht vor bürokratischen Grenzziehungen. Man kann von ihm lernen, Krieg und Militär zu begreifen, statt darüber zu moralisieren. Man kann von ihm noch immer einiges über die Zusammenhänge von sozialen und ökologischen Fragen lernen. Man kann von ihm lernen, die Unterdrückung und Ausbeutung der Frauen ernst zu nehmen. Man kann von ihm lernen, mit Ironie, mit Verstand und einer guten Portion aufgeklärter Skepsis an der Verbesserung der Welt zu arbeiten.

                                     
Literaturempfehlungen:    
   Michael R. Krätke (Hrsg), Friedrich Engels oder Wie ein „Cotton-Lord“ den Marxismus erfand, Berlin: Karl Dietz Verlag 2020.
   Rainer Lucas, Reinhard Pfriem und Hans-Dieter Westhoff (Hrsg), Arbeiten am Widerspruch – Friedrich Engels zum 200. Geburtstag, Marburg: Metropolis Verlag 2020.
* Dieser Artikel erschien etwas kürzer in Der Freitag no. 41 v. 8. 10. 2020.

 

Friedrich - der Große