Rätselhaftes Afghanistan

Rätselhaftes Afghanistan
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Zwanzig Jahre haben im zwanzigsten Jahrhundert etlichen Ländern genügt, um sich zu alphabetisieren, eine industrielle Grundlage zu legen und eine verteidigungsfähige Armee aufzubauen. Wieso das mit westlicher Hilfe in Afghanistan nicht ansatzweise geglückt ist, muss nicht nur von den verantwortlichen Regierungen gründlich analysiert werden. In der Bundesrepublik ist auch das Parlament, einschließlich der Opposition für die Zustimmung zu Militäreinsätzen verantwortlich. Bis hin in die grüne Fraktion hinein hat die Mehrheit dem Engagement immer wieder zugestimmt. Sogar die Friedensbewegung muss sich fragen, ob sie sich genug um die Vorgänge in Afghanistan gekümmert hat.

Stimmen, die jetzt zaghaft vorbringen, dass es eben sinnlos gewesen sei, moderne demokratische Strukturen einem Land aufzuoktroyieren, das noch mittelalterliche Strukturen aufweist, sind rassistisch und geschichtsvergessen. Arte zeigte kürzlich einen ganzen Abend lang Dokumentationsmaterial aus Afghanistan der sechziger und siebziger Jahre** Vor allem war den Filmen zu entnehmen, dass eine breite, von Studenten geführte laizistische Schicht einen zähen Kampf gegen die herrschenden Feudalkräfte führte. Zum Unglück für das Land wurde dieser Kampf 1979 mit der sowjetischen Intervention in einen Stellvertreterkrieg transformiert. Der Westen schlug sich auf die Seite der zur Widerstandskraft stilisierten Feudalität. Diese Unterstützung zahlte sich jedoch nicht aus, weil die Feudalkräfte nach dem Abzug der sowjetischen Truppen ihre Partikularinteressen geltend machten. Dass die Taliban 1994-1996 mit Unterstützung Saudi Arabiens und indirekt auch der USA von Pakistan aus Afghanistan erobern konnten, war ein erneuter Versuch, doch wieder westlichen Einfluss auf das Land zu gewinnen. Das Ergebnis aber war, dass die Taliban ein drakonisches islamistisches Regime errichteten. Und das Land wurde zur Operationsbasis des Al Qaida-Netzwerks, das ein Kalifat in der islamischen Welt errichten wollte und den Westen terroristisch angriff.             

Ein Kampf um die Modernisierung Afghanistans hat also nicht erst mit dem Beginn der ISAF-Operation 2001 begonnen, sondern bereits in der afghanischen Gesellschaft selbst. Um so schmerzvoller und zum Teil existenzgefährdend ist es für viele Afghanen, insbesondere die Frauen,  dass ihr Land jetzt erneut zum Islamischen Emirat Afghanistan wird. Allerdings hatte es für die Mehrheit der Afghanen gar nicht aufgehört zu existieren. Die NATO-Truppen haben in den vergangenen zwanzig Jahren nur die großen Städte und ihre eigenen Stellungen gesichert. Viel umfassendere ländlichen Zonen blieben unter dem islamistischen Regime der Taliban. Daher war die Rekrutierung von Kämpfern kein Problem. Und mit Unterstützung von Pakistan, das seine bedingungslose Zusammenarbeit mit den USA allmählich aufgab, konnten sich die Taliban auch ausreichend bewaffnen, um ihr Einflussgebiet zu halten und schließlich zügig in das durch den Truppenrückzug der Koalitionäre entstehende Vakuum vorzurücken. 

Dass die 250 000 Mann starke, vom Westen trainierte und bewaffnete afghanische Armee offenbar keine Motivation hatte, demokratische Errungenschaften zu verteidigen, sondern vorzog, nicht zu kämpfen oder sogar zu den Taliban überzulaufen, hat den Westen brüskiert. Dabei war es ein Ausdruck politischer Klugheit, in dem nunmehr seit vierzig Jahren von fremdbestimmter Instrumentalisierungen und Bürgerkriegen gezeichneten Land, endlich einmal Blutvergießen zwischen Afghanen zu vermeiden. Dafür spricht auch die von den Taliban verkündete Generalamnestie. Wenngleich es noch keine Garantie für einen wirklich friedlich verlaufenden Machtwechsel gibt, kann das zum symbolischen Akt der Gründung der afghanischen Nation werden.   

Ebenfalls unklar sind die genauen Konturen der Veränderung des geopolitischen Kräfteverhältnisses auf dem asiatischen Kontinent. Das afghanische Emirat ist ein riesiger Territorialstaat, der mit Pakistan über ein großes verbündetes Hinterland verfügt. Es grenzt an die Islamische Republik Iran, deren Macht nicht nur im Irak gewachsen ist, sondern auch in Richtung Osten weiter anwachsen könnte. China, das in einigen von den Taliban beherrschten Gebieten schon seit Jahren investiert hatte, kündigte bereits an, mit dem Emirat diplomatische Beziehungen aufnehmen zu wollen – obwohl das in seltsamem Gegensatz zur Unterdrückung radikalisierter Uiguren in China selbst steht. Russland verlautbarte, dass es eine Entscheidung über seine Beziehungen zu Afghanistan erst treffen werde, wenn die politische Richtung der neuen Regierung deutlicher werde.

Auch in der arabischen Welt kann sich das Kräfteverhältnis verschieben. Saudi Arabien, das einst zu den Unterstützern der Taliban gehörte, sah sich nun ebenfalls gezwungen, sein Botschaftspersonal vollständig aus Kabul abzuziehen. Dass die Taliban ins Lager Katars, des großen Konkurrenten der Saudis gewechselt sind, deutete sich schon an, als die Verhandlungen mit den USA in Doha und nicht in Riad stattfanden.

Die wichtigste Auseinandersetzung steht innerhalb der NATO bevor, wo zumindest die Art und Weise infrage steht, wie sie bislang von den USA geführt wurde. Es dürfte deutlich werden, dass die Kosten des Vasallentums zu hoch sind. Nicht zuletzt auch, weil Europa sich in den kommenden Jahren um schutzsuchende Afghanen kümmern muss.     

Zu hoffen ist, dass die Epoche des Exports von Demokratie westlichen Zuschnitts durch militärische Eingriffe zuende geht. Mehr Nutzen hätten die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas in einer Epoche wirtschaftlichen Wettbewerbs, in der der Westen einerseits und China und Russland andererseits um Einfluss werben.

 

* Dieser Artikel erschien etwas kürzer unter dem Titel Vergessene Geschichte, ungewisse Zukunft in    

   Der Freitag no 33 v. 19. 8, 2021, S. 6-7.

 

** Vier Dokumentationen zum Geschichte Afghanistans im 20. und 21. Jahrhundert mit hohem Materialwert. Natürlich sind Interpretationen erforderlich, die über den Kommentar hinausgehen, ihm auch widersprechen. Erkennbar aber ist, dass das Land durchaus dabei war, sich seinen Weg in die Moderne selbst zu erkämpfen:

 

https://www.arte.tv/de/videos/081554-001-A/afghanistan-das-verwundete-tland-1-4/

https://www.arte.tv/de/videos/081554-002-A/afghanistan-das-verwundete-land-2-4/

https://www.arte.tv/de/videos/081554-003-A/afghanistan-das-verwundete-land-3-4/

https://www.arte.tv/de/videos/081554-004-A/afghanistan-das-verwundete-land-4-4/

 

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