Libanon: Am Abgrund oder am Scheideweg?

Libanon: Am Abgrund oder am Scheideweg?
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Trotz etlicher Bürgerkriege und mehrmaligem großem Zustrom von Flüchtlingen – 1948 und 1970 kamen hunderttausende Palästinenser ins Land und heute leben auch 1,3 Millionen geflüchtete Syrer im Libanon – galt das Land in Anspielung an die alte Mandatsmacht Frankreich noch immer als „Paris“ des Nahen Ostens. Und wegen seines strengen Bankgeheimnisses hieß es auch „die Schweiz der Levante“. Hier konnte man in angenehmem Klima unbeschwert und luxuriös urlauben. Von den Vergnügungsmeilen Beiruts profitierten in den letzten Jahrzehnten vor allem reiche Männer aus der arabischen Halbinsel. Wegen zunehmender Unsicherheit und weil die vom Iran unterstützte  Hisbollah zu einem wesentlichen Machtfaktor geworden ist, wurde der Staat von Europäern mehr und mehr gemieden. Und die Golfstaaten haben den Großteil ihrer bei libanesischen Banken lagernden Finanzen zurückgezogen. Seit Beirut am 4. August von einer Explosion getroffen wurde, deren Gewalt die Bombenexplosionen der vergangenen Konflikte weit übertroffen hat, erinnern sich die Europäer wieder an den Libanon, leisten wichtige Soforthilfen und wittern womöglich die Chance, hier – einmal unabhängig von den USA – eine politische Duftmarke im Nahen Osten setzen zu können. Präsident Macron eilte schon einen Tag nach dem Unglück nach Beirut. 

Die Katastrophe traf ein nicht nur durch die Corona-Krise stark geschwächtes Land. Bis zum Ausbruch der Seuche wurde der Libanon monatelang von mächtigen Sozialprotesten erschüttert, die das Land bislang so noch nicht kannte. Seit seiner Gründung 1926 bestand ein auf dem Proporz der Konfessionen beruhendes politisches System. Die aus den Urchristen hervorgegangenen und sowohl von arabischer Sprache und Kultur als auch von europäischen Einflüssen geprägten Maroniten stellten von 1943 bis 1975 die Regierung. Während des auch vom Westen angeheizten, damals beginnenden und bis 1990 dauernden Bürgerkriegs zwischen Christen und Muslimen zerfiel der Libanon in Einflussgebiete verschiedener Milizen. Weil sich die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Muslime veränderten und nicht die libanesische Armee, sondern die Truppen der Hisbollah 2006 die unter einem Schirm massiver Bombardements in den Libanon eingedrungenen israelischen Truppen zum Abzug zwangen, wird die Regierungsarbeit von dieser Partei seitdem stark beeinflusst.

 

Aber das noch immer nach in sich vielfach aufgespaltener Konfessionszugehörigkeiten konstruierte System funktionierte für die breite Bevölkerung immer weniger. Unter neoliberalem Anstrich organisierten sich die jeweiligen Führungsclans mafiotisch. Laut dem renommierten Ökonomen Kamal Hamdan kontrolliert ein Prozent der Libanesen 40% der nationalen Ressourcen. Die Arbeitslosigkeit wurde Anfang 2020 auf 30% geschätzt, wobei junge Menschen zwischen 15 und 35 Jahren besonders stark betroffen sind. Öffentliche Dienste stehen kaum zur Verfügung. In einigen abgelegenen ländlichen Gebieten fehlt eine öffentliche Gesundheitsfürsorge ganz. Sogar zur Bekämpfung der zunehmenden Waldbrände fehlten der Regierung adäquate Mittel. 

 

Schließlich wurde Ende 2019 bei einer Kontrolle der Banken festgestellt, dass aus ihren Depots etwa 70-80 Milliarden Dollar aus den Guthaben der Bürger an die Zentralbank geleitet wurden, die sie zehn Jahre lang zur Finanzierung nicht produktiver Ausgaben verwandte. Plötzlich hatten viele Libanesen ihre Guthaben verloren. Und wer noch über Geld bei den Banken verfügte, konnte nur 300 Dollar pro Woche abheben. Im März gab Ministerpräsident Hassan Diab bekannt, dass das Land erstmals keinen Schuldendienst leisten könne. Das an den Dollar gebundene libanesische Pfund erfuhr eine starke Abwertung.  

 

Neuartig an den Massendemonstrationen, die das Bild des Libanon seit dem 19. Oktober 2019 prägten, war, dass sich nicht mehr religiöse Gemeinschaften gegeneinander aufstellten, sondern dass es sich um konfessionsübergreifende Proteste handelte, die das herrschende, hinter religiöser Bigotterie getarnte Clanwesen infrage stellten und Maßnahmen gegen die Korruption forderten. Mit der damit einhergehenden Stärkung von Gewerkschaften und laizistischen politischen Kräften konnte sich im Libanon erstmals eine wirklich demokratische Perspektive entfalten. Im Zuge der Proteste musste Ende Oktober die Regierung von Saad Hariri zurücktreten, nachdem dieser noch in Saudi Arabien vergebens um Hilfe gebeten hatte. 

 

Obwohl das aktuelle Staatsoberhaupt, Michel Aoun, eine rückhaltlose Aufklärung der Explosionskatastrophe versprochen hat, sehen die bislang dafür unternommenen Schritte nicht konsequent aus. Verhaftet wurden bislang eine Reihe von Arbeitern und Leitungskadern des Hafens, die die dort seit sechs Jahren lagernden 275 Tonnen Ammoniumnitrat nicht ordnungsgemäß kontrolliert haben sollen. Nicht geforscht wurde nach den Eigentümern des Stoffes, der schließlich nicht nur als Dünger, sondern auch zur Herstellung von Explosivwaffen verwendet werden kann. Eine international besetzte Untersuchungskommission, die viele Libanesen fordern, lehnt die Regierung ab. 

 

Am Sonnabend, dem 8. August, demonstrierten erneut tausende Menschen gegen die ungebrochene Klüngelwirtschaft der Eliten. Etliche Ministerien wurden besetzt. Viele Protestierer führten Attrappen von Guillotinen mit sich, andere wedelten mit Henkerskordeln und forderten die Todesstrafe für als „Mörder“ bezeichnete Regierungsmitglieder. Die Streitkräfte mussten die Ministerien zurückerobern, ein Polizist kam bei den Tumulten um. Einige, auch international bekannte Clanführer erklärten ihren Rücktritt, u. a. der Chef der christlichen Partei der Phalangisten, Samy Gemayel und der Drusenführer Walid Djumblatt. Ministerpräsident Diab kündigte die Vorbereitung von antizipierten Neuwahlen an. Am 10. August trat schließlich die gesamte Regierung zurück.       

 

Der Niedergang des Libanon – wie auch Jordanien – hängt auch mit dem Syrienkrieg zusammen. Alle drei Länder sind historisch und kulturell eng verbunden. Sie kannten bis zum Ende des Osmanischen Reiches keine Grenzen, die erst von den Mandatsmächten England und Frankreich entsprechend ihrer untereinander ausgehandelten Einflusssphären gezogen wurden. Das weithin aride Jordanien und der stark bevölkerte Libanon sind von den Landwirtschaftsprodukten aus Syrien abhängig und wünschen auch deshalb eine befriedete durchlässige Grenze. Im Unterschied zu europäischen Ländern, die syrische Flüchtlinge aufgenommen haben, schlossen die libanesische und die jordanische Regierung mit Damaskus Verträge ab, wonach Rückkehrwillige bei den konsularischen Vertretungen Syriens Auskunft einholen können, ob sie Verfolgung zu erwarten haben oder nicht und auch, inwieweit eine Heimkehr in die Herkunftsorte möglich ist. Da die soziale Krise die Akzeptanz der Flüchtlinge vermindert, wird von der Rückkehrmöglichkeit auch Gebrauch gemacht. Mittlerweile gibt es wieder einen kleinen Grenzverkehr mit Syrien. Was hiesige Medien verschweigen: Großhändler können Obst und Gemüse in Damaskus preiswerter erwerben als in Amman und Beirut.

 

Dass die Karten im Libanon jetzt womöglich neu gemischt werden können, zeigte auch das Hilfsangebot Israels, mit dem der Libanon seit 1948 offiziell im Kriegszustand steht. Man muss kein Prophet sein, um festzustellen, dass sich ein durch die Katastrophen- und Aufbauhilfen vergrößerter europäischer Einfluss im Libanon irgendwie mit dem Einfluss des Iran arrangieren müsste. Die Corona-Krise hat zwar offenbart, wie sehr die iranische Sozialstruktur geschwächt ist. Teheran wird sein ideologisches und militärisches Engagement im Libanon aber nicht vermindern, doch kaum in der Lage sein, notwendige Aufbauhilfen rasch zu gewähren. Da jedoch das Misstrauen von Regierung und Bevölkerung nicht nur des Iran, sondern in breiten Kreisen des Nahen Ostens gegen die mittlerweile hundertjährigen fatalen Einmischungen des Westens unüberwindlich geworden ist, wäre ein ganz neuer Politikansatz notwendig. Die Europäer müssten sich emanzipieren von den auf weitere Zerstückelung des Nahen Ostens zielenden Bestrebungen der USA und der Türkei. Und stattdessen den Frieden in der Region und die wirtschaftliche Reintegration der Levante fördern.

 

* Dieser Artikel erschien unter dem Titel Sie haben Guillotinen dabei in: Der Freitag no. 33 v. 13. 8. 2020, S. 3.

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