Schmutzige Leben, schmutzige Fantasien

Beginnen wir direkt mit dem Wichtigsten: Wenn Sie Ihre Mitbürger dazu bringen wollen, (…) sich hinter die Idee eines gemeinsamen, freien Rundfunks ARD zu stellen  – auch und gerade in Zeiten, in denen Gegner der ARD deren Relevanz infrage stellen und orchestrierte Kampagnen fahren, die die ARD in starken Bildern und Narrativen abwerten  –, dann muss Ihre Kommunikation immer in Form von moralischen Argumenten stattfinden.“ Mit diesem Satz beginnt das „Framing-Manual“, das die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling 2017 für die ARD entwickelte. Was gedacht war zur Kommunikation über die eigene Sendeanstalt, hat sich heute zur Leitlinie der Berichterstattung gegen Russland und China gemausert.

Diese Framing-Theorie fußt auf einer bürgerlichen Psychologie, der Metapherntheorie, die aufgrund selbst verordneter Denkverbote leicht ausgenutzt werden kann zur imperialistischen Herrschaftssicherung. Arbeit und deren biografische wie historische Verhältnisse werden in ihrer kategorialen Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung außer Acht gelassen – ganz anders in der materialistischen Psychologie.

Die Natur des Menschen

„Die Natur des Menschen ist seine Geschichte“, sagte Antonio Gramsci im Gegensatz zu jener Vorstellung, biologische Bedürfnisse wie Hunger oder Sexualität seien nur eine schrittweise Weiterentwicklung des Tieres (Konrad Lorenz) oder des Frühkindlichen (Sigmund Freud). Gramsci meinte damit, in Hegelscher Tradition, dass die Biologie gleichsam tief durch die Geschichte der Klassen in die Persönlichkeit taucht und darin aufgehoben wird. Wie sich körperliche Anlagen durch das Gesellschaftliche hindurch in einer Biographie bewegen, empfehle ich vorzustellen wie Druck von heißem Wasser durch Kaffeemehl in einer Espressomaschine. Beide sind dann in der Tasse weder als Einzelelemente noch als Druck mehr auffindbar.

Der Mensch will zum Beispiel nicht hungern. Aber er kämpft nicht bloß ums Überleben, sondern „gegen den Kampf ums Überleben“ (Klaus Holzkamp). Also bildet er Vorräte (um deren Anteile sich dann Menschen in Klassenformationen streiten). Diese Vorräte werden in einigen Ländern als Festbanketteschau oder TV-Kochshow ausgestellt, als sei die Menschheit frei von Hunger. Und dass der Mensch nie wieder dürsten will, demonstriert er stolz bei Stammtischen und Weinverkostungen. Oder: Warum sein Sexualtrieb gegen die Fortpflanzung einsetzbar wird, zeigen Verhütungsmittel, Lovetoys und Pornografie in willkürlichem Kommerz sowie in spontan-unwillkürlichen Vorstellungen. Solcherlei Essen, Trinken und Sex als „tierisch“ zu bezeichnen wäre also ahistorisch.
Auch psychische Störungen des Menschen sind nicht ein für alle Mal und unheilbar in der Kindheit angelegt, sondern müssen – um fortzubestehen – ständig korrespondieren, „angetriggert“ werden, mit anderen „Störungen“, mit neuem Unglück auf der Basis von „Entfremdung“, also mit der Räuberei der Arbeitskraft. Geglücktere Arbeitsbiografien hingegen vermögen durchaus frühkindlich erworbene psychische Störungen auszudörren! 

Menschliches Lernen 

Des Menschen Lernen unterscheidet sich vom tierischen, wobei bewusstes Einprägen und Erkennen siamesische Zwillinge werden, besonders, wenn sie bei der Arbeit erfolgen. Beide sind auf Vergangenheit angewiesen, wenn sie in die Zukunft wollen. Das liegt vor allem daran, wie und wie ausgiebig der Mensch seine individuellen und kollektiven Erfahrungen und anderes Denken in Sprache – etwa in Büchern – ablegt. All das kann sich der Mensch als Bildung neu erwerben. Dabei ist Sprechen nicht fonetisiertes Denken, weil sich „das Bewusstsein im Wort spiegelt wie die Sonne im Wassertropfen“, wie der sowjetische Sprachpsychologe Lew Wygotski William Shakespeare zitiert. „Das sinnvolle Wort ist der Mikrokosmos des Bewusstseins. (…) Die Versuche zeigen, dass der Gedanke sich nicht im Wort ausdrückt, aber sich in ihm vollendet“, so Wygotski – wohingegen ich „Vollendung des Gedankens“ nur im Wort eher für „vorläufig“, aber in kollektivgestützter Tat für „weiterreifend“ erachte.
Wygotski zitiert Lenin: „Auch in der einfachsten Verallgemeinerung (…) (‚der Tisch‘ überhaupt) steckt ein gewisses Stückchen Fantasie.“ Er fährt fort: „Der Gedanke, dass Fantasie und Denken in ihrer Entwicklung Gegensätze sind, deren Einheit bereits in der ersten Verallgemeinerung, im allerersten beim Menschen gebildeten Begriff enthalten ist, kann nicht klarer zum Ausdruck gebracht werden. Dieser Hinweis auf die Einheit der Gegensätze und ihren Widerspruch, wonach jede Verallgemeinerung einerseits heißt, dem Leben zu entschwinden, und andererseits eben dieses Leben tiefgründiger und richtiger widerzuspiegeln, und dass in jedem allgemeinen Begriff etwas Fantasie steckt, eröffnet den richtigen Weg zur Untersuchung des autistischen und des realistischen Denkens.“
Diese genialen Zeilen bringen uns auf die Spur, wonach das menschliche Erkennen gleichzeitig „nach oben“, in die wissenschaftliche Abstraktion, als auch in die sinnlich-konkrete Tiefe tendiert. Die Gattung Mensch – ebenso wie eine Organisation werktätiger Klassenmenschen – tut also gut daran, nicht nur Wissenschaft als „obere“ Seite des Erkennens, sondern auch Kunst als „untere“ zu betreiben. 

Bild und Begriff 

Bei der Herausbildung der Menschheit als auch bei der Entwicklung der Individuen entscheidet die Dialektik aus Bild und Begriff die Schlacht um Gedächtnis und Mehrwissen. Dabei erkennt der Mensch vorwiegend in seiner eigenen Tätigkeit oder an der Arbeit anderer. Friedrich Engels rückt darum in seiner Schrift vom „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ die Hand (Handlung) an den Anfang. Deren Steuerungsfunktionen gehen zur Verstandesentfaltung und sogar ins menschliche Erbgut über. Arbeitsmittel werden – bei geübtem Gebrauch – in Ausübung der Sinne „Organ der Arbeit … auch ihr Produkt“.
Der sowjetische Psychologe Alexei Leontjew nannte die Entwicklung der Psyche einen „von Anfang gesellschaftlichen Prozess“ – im Unterschied zu allen tierischen Aktivitäten. Das Ich wird somit gleichsam entbiologisiert und aus einer absoluten Autonomisiertheit geholt. Es gibt schlussendlich keine einzige entfaltete psychische Regung, die nicht aus Sozialität stammt: aus der Arbeit der Menschheit mit der nicht-menschlichen Welt, aus der gesellschaftlichen Arbeit des Einzelmenschen an den von seinen Mitmenschen und Vorfahren gestalteten, ihm überlassenen Umständen. 

Wesen und Erscheinung 

Dabei sind besonders die widersprüchlichen Zusammenhänge zwischen Gehalt und Gestalt näher zu betrachten. Nehmen wir die Auseinandersetzung zwischen Wygotski und dem Baseler Kinderpsychologen Jean Piaget. Letzterer beschrieb die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit vom Autonomen hin zum Sozialen. In Piagets Theorie steht die Gestalt im Mittelpunkt, etwa die autonomen Laute, mit denen ein Säugling Milch einfordert.
Hingegen Wygotski: „Ursprünglich ist das Sprechen des Kindes also rein sozial, es sozialisiert zu nennen wäre falsch, weil damit die Vorstellung von etwas ursprünglich nicht Sozialem verbunden ist, das erst im Prozess seiner Veränderung und Entwicklung sozial würde.“
Wygotski unterschied also zwischen der Gestalt egozentrischer Töne und deren allgemeinem Gehalt. Je mehr ein Mensch also sein Denken und Sprechen aus der Gesellschaft holt, deren kultureller Reichtum, im Gegensatz zum tierischen Instinkt, außerhalb abgelegt ist, desto individueller und weniger an die Gesellschaft gefesselt bleibt er. Je mehr Gesellschaft er aktiv gebraucht, desto weniger benötigt er sie passiv. 

Neoliberale Psychologie 

Wenn wir uns mit modernen psychologischen Ansätzen auseinandersetzen, fällt auf, dass sie das Ich vergötzen. Den „Neoliberalen“ kommt das entgegen, da sie dem vereinzelten Ich umso besser das Fell über die Ohren ziehen können. Sie reden jedem Unterdrückten ein, er sei bereits autonom und „seines Glückes Schmied“, einfach weil geboren, wahlberechtigt und etwas vor sich hin redend oder postend. Sie appellieren an Egomanie, ohne die gesellschaftlichen Potenziale voll zu erschließen, die ein starkes Ich als Nährboden braucht. Sie lassen, mit Bertolt Brecht, der werktätigen Mehrheit die freie Wahl über die Klaviertasten, ohne jegliche Unterrichtung. Sie behandeln also Ungleiches gleich und verschärfen damit die Ungleichheit – während Sozialismus Ungleiches ungleich behandelt, um Gleichheit zu erzielen. Die Klassiker und Brecht loben darum das Lernen, um zum An-und-für-sich-Denken zu gelangen. Sozialismus ist also entgegen der bürgerlichen Propaganda nicht „Gleichmacherei“, sondern auf Basis der Sozialität zu einer starken Individualität aufzusteigen. Wo die Eliten den Mehrheiten Bildungspotenziale vorenthalten, benachteiligt dies auf lange Sicht die Individualität wie die Gattung, sich größere Potenziale zu verschaffen. Die Menschheit löst tendenziell nämlich erst dann all ihre Probleme, wenn alles Wissen von allen ausgebeutet wird.
Wygotski: „Die Entwicklung des kindlichen Denkens verläuft (…) vom Sozialen zum Individuellen. Humboldt empfahl schon früh: ‚Man muss die Sprache (…) nicht wie ein totes Erzeugtes, sondern weit mehr wie eine Erzeugung ansehen, mehr von demjenigen abstrahieren, was sie als Bezeichnung der Gegenstände (…) wirkt, und dagegen sorgfältiger auf ihren mit der inneren Geistestätigkeit eng verwebten Ursprung (…) zurückgehen.‘“ Der Umgang mit dem wissenschaftlichen Begriff ist ein dynamischer, tätigkeitskorrespondierter Weg des Verallgemeinerns und dieser steigt ebenso lebendig auf zu einer qualitativ neuen Konkretheit. 

Kunst und Wissenschaft 

Ästhetik ist dabei keinesfalls nur Wissenschaft in anderem Gewand, sondern erzählt neu, was Theorie neu definiert. Die Energieentfaltung zwischen wissenschaftlichem Begriff und künstlerischer Metapher, also die Herausbildung von affektiver Intelligenz, kommt dabei aber aus deren Entfernung zueinander, nicht aus deren Übereinstimmung! Nur beide gemeinsam  – Abstraktion mit Berechnung und Metapher mit Fantasien – kommen der Realität näher. So ist es auch im Falle des „logischen Kapitalbegriffs“ bei Karl Marx. Auch dessen Erfassung ist „rechnerisch-abstrahierend“ beschaffen. Gleichzeitig können wir uns anschaulich, agitatorisch „Ausbeutergeschmeiß, Finanzhaie, Profitjongleure, Kapitalisten“ vorstellen.
Offenbar geht unser Erkennen einen Mix ein zwischen Gestalt (Erscheinung, Metapher) und Gehalt (theoretischer Ausmessung). Diese Vordergründigkeit wird seit einigen Jahrzehnten von modischen „Metapherntheorikern“ wie der eingangs erwähnten Elisabeth Wehling „missbraucht“. In ihrem gemeinsam mit George Lakoff verfassten Buch „Auf leisen Sohlen ins Gehirn“ versucht sie ahistorisch am Gebrauch von Metaphern falsches Verhalten zu denunzieren: „Der wohl prominenteste Frame ist dabei derjenige: Eine Flüchtlingswelle hat uns 2015 überrollt. Eine Flüchtlingsflut (…) die Metapher von Wassermassen … was tun? (…) Dämme bauen (…) Sandsäcke vor die Türen.“ Die Autoren suggerieren, dass jeder, der das Bild „Flüchtlingswelle“ und „-flut“ im Mund führt, genau diese Bedrohung transportiert. Ertappt, ihr doofen „Bildungsfernen“. Verzicht auf ein Wort verhieße dann „automatisch“ humane Politik.
Wer aber – auch als „Bildungsferner“ – für Geflüchtete spendet, empfi ndet bei „Flüchtlingswelle“ doch „Welle“ anders als derjenige, der es rassistisch meint. Worte bleiben also im historischen Fluss und können nicht zum Austrocknen ans akademische Land gezogen werden. Mechanische Wortklauberei liefert Überheblichkeit, aber keinen sozialen, kritischen Theorieansatz! 

Über Worte und Zustände 

Der Unsinn, der Krieg käme nicht vom Kriegsprofit, sondern „aus unseren kriegerischen Metaphern“, findet seine Nahrung dort, wo zwischen Metapher und Begriff nicht unterschieden wird. Wir sollten nicht zuerst die unangenehmen Worte abschaffen, sondern die unangenehmen Zustände, mit denen diese kommen. Auch, weil miese Zustände Worte mies aufladen.
Das Wort „Sexualität“ findet zum Beispiel in den Standardwerken der Metapherntheorie zwar nie wirklichen Anklang. Aber deren Anhänger neigen auch bei Pornografie zur Verbannung, als sei Pornografie von vornherein schmutzig. Jedoch: Wo Arbeit wie Dreck bewertet wird, muss davon die Reproduktion in der Freizeit etwas loswerden, steigen notwendig schmutzige Fantasien auf – meist religiös-pornografi sch –, eine unbefleckte Empfängnis der Sozialbeschädigung entgegenbauend. Brecht taufte auch darum provozierend einen Teil seiner Liebeslyrik, in welcher der Markt Erotik formatiert, „pornografi sche Gedichte“, denn er wollte die schmutzigen Verhältnisse überwinden, anstatt mit Verboten von Worten, Vorstellungen und lustvollen Handlungen – ähnlich der Prohibition – nur die illegalisierten Preise hochzutreiben.
Es ist ja die Arbeitswelt, die die Traumwelt nicht in Ruhe lässt. Wer erkannt hat, wie soziale Verhältnisse sich die Sexualhormone zurichten (und nicht umgekehrt), wird auch als Psychologin kapitalfixierte Zeit- und Lohnregimes bekämpfen. Und Aufklärung betreiben: Bildung mit Begriffen und mit Metaphern, als Arbeit mit der Kunst und dem h i s t o r i s c h e n Wissen.