Friedrich Engels und die Musik

Friedrich Engels
Personen: 

Friedrich Engels wuchs in einem großbürgerlichen, pietistisch aber auch musikalisch geprägten Milieu auf

Barmen

Sein Großvater, Johann Caspar Engels, war nicht nur Hauptstifter der Vereinigt-Evangelischen Gemeinde Unterbarmen, sondern gleichzeitig auch ein großer Musikliebhaber, passionierter Orgelspieler und Mitbegründer der "Gesellschaft Musica" in Barmen, weshalb sämtliche seiner Kinder ein Musikinstrument erlernen sollten. So auch Friedrichs Vater, der Klavier, Cello und Fagott gespielt und später mit seiner im Gitarrenspiel und Gesang versierten, Goethe verehrenden Ehefrau die familiären Hausmusiken gepflegt haben soll.

 

   Wofür eigens ein Musikzimmer eingerichtet wurde, welches im Erdgeschoss des mit Wandgemälden von Fluss- und Küstenlandschaften ausgestatteten Hauses liegt, und dessen mit klassizistischen Ornamenten, Vögeln, Lyren, Lobeerkränzen und Sphingen geschmückten Wände gerade anlässlich Engels' 200stem Geburtstag restauriert wurden.

 

   Ob und welches Musikinstrument Friedrich Engels in diesem Rahmen spielte, ist nicht bekannt. Gewiss ist jedoch, dass er das Singen seit seiner Kindheit praktizierte: Ob zuhause, beim obligatorischen Kirchbesuch, in mehrstimmigen Chorälen, oder zunächst in der Barmer Stadtschule und später im Elberfelder Gymnasium, einer Schule mit anspruchsvollem, breitgefächerten Lehrplan, welcher neben Naturwissenschaften z.B. auch Griechisch, Hebräisch, Kalligraphie, Zeichnen und Philosophie umfasste, und in dem durchgängig in allen Jahrgängen das Fach "Gesang" zu finden ist. Hier in Barmen wurde ein vielschichtiges musisches Fundament gelegt.

 

Bremen

 

   Als sein Vater ihn, der eigentlich hatte Dichter werden wollen, 1 Jahr vor dem Abitur von der Schule nimmt und für die Jahre 1838-1841 zur kaufmännischen Ausbildung nach Bremen schickt, findet er neben der Comptoir-Arbeit noch reichlich Zeit und Energie, nun seinen persönlichen Interessen nachzugehen und sie eigenständig weiterzuentwickeln.

 

  So auch seine Liebe zur Musik: Er besucht jetzt begeistert Konzerte, schreibt als Zeitungskorrespondent enthusiastisch über das Musikleben der Stadt, wird Chorsänger in der renommierten Bremer Singakademie und versucht sich sogar selbst im Komponieren, inspiriert von dem musikalischen Angebot dieser Stadt:

 

   "Die beste Seite Bremens ist die Musik" resümiert er als Korrespondent für das Stuttgarter "Morgenblatt für gebildete Leser" 1841 über das rege Musikleben der Stadt. "Es wird in wenig Städten Deutschlands so viel und gut musiziert wie hier. Eine verhältnismässig sehr große Anzahl von Gesangsvereinen hat sich gebildet, und die häufigen Konzerte sind immer stark besucht. Dabei hat sich der musikalische Geschmack fast ganz rein erhalten; die deutschen Klassiker, Händel, Mozart, Beethoven, von den neuern Mendelssohn-Bartholdy und besten Liederkomponisten behaupten entschieden das Übergewicht. ... Es wäre zu wünschen, dass Sebastian Bach, Gluck und Haydn weniger zurückgesetzt würden. Dabei werden neuere Erscheinungen keineswegs abgewiesen, im Gegenteil möchten wenig Orte sein, wo die Produktionen junger deutscher Komponisten so bereitwillig aufgeführt würden. ... Riem ist ein liebenswürdiger Greis mit jugendlicher, hinreißender Begeisterung im Herzen, niemand versteht wie er, Sänger und Instrumentalisten zu lebendigem Vortrag zu entflammen."

 

   Die aktive Mitwirkung in jener besagten, insgesamt 156 Choristen umfassenden Singakademie mit ihrem dynamischen Leiter, der ein großer Verehrer der Werke Georg Friedrich Händels und ganz besonders derer Johann Sebastian Bachs war, und zugleich die sich bietenden Konzert- und Opernbesuche werden für den Kaufmannslehrling wider Willen zu einer Art Lebenselexier:

"Heute einen furchtbar langweiligen Tag gehabt. Auf dem Comptoir halbtot geochst. Dann Singakademie gehabt, ungeheuren Genuss", schreibt er 1839 seinem ehemaligen Schulkollegen Wilhelm Graeber.

 

   Die Oper besucht Engels bereits seit seiner Ankunft in Bremen. So hatte er seiner Schwester Marie im Oktober 1838 begeistert vorangekündigt: "... heute Abend wird die 'Zauberflöte' gegeben, da muss ich hin; es soll mich einmal verlangen, was das für ein Stück ist, ich hoffe es wird recht schön sein." Das wurde es tatsächlich, denn schon am nächsten Tag berichtet er ihr: "Im Theater bin ich gewesen, und die 'Zauberflöte' hat mir sehr gut gefallen; ich wollte, Du könntest auch einmal mit mir dahin gehen, ich wette, es gefiele Dir sehr gut."

 

   Diese am eigenen Leibe erfahrene vitalisierende "Macht der Musik", sei es aktiv im Singen, oder auch nur rezeptiv als Zuhörer, wird er vier Jahre später aus Berlin, als Korrespondent der "Rheinischen Zeitung", für eine breitere Leserschaft thematisieren, wenn er über "den göttlichen Geist der Freude und des Lebensgenusses, dessen innersten Kern eben der Kunstgenuss bildet" reflektiert, und er resümiert:

   "... und von allen Künsten eignet sich keine so sehr ... zu gegenseitiger Auffrischung des Lebensmutes, ... als gerade die Musik."

 

   "Friedrich ist so ein eigenthümlicher beweglicher Junge", hatte der Vater nicht ohne Sorge über den 15 Jährigen geschrieben ...

 

   Und so nimmt es nicht Wunder, dass Engels' ungewöhnliche Sensibilität und sein vielseitig interessierter, beweglicher und zu komplexerem Denken fähiger Geist hier nicht bei der individuell psychologischen Wirkung von Musik halt machen. Das Gemeinschaftserlebnis in Bremen beim Mitsingen polyphoner Chöre in den Oratorien von Händel oder Mendelssohn und die Erfahrung eines geradezu potenzierten Hörgenusses, wenn letzterer bei einem Konzertbesuch mit Gleichschwingenden geteilt werden kann, beeindrucken ihn offensichtlich noch nachhaltig so sehr, dass er in oben zitiertem Artikel die Macht der Worte - wenn auch vielleicht nicht im eigenen journalistischen Medium, so doch innerhalb des Schauspiels - hinterfragt, und zugunsten der Musik schlussfolgert:

"... Darum kann das Drama keinen Mittelpunkt großer Versammlungen mehr abgeben, eine andere Kunst muss aushelfen, und das kann nur die Musik, denn sie allein lässt die Mitwirkung einer großen Menge zu und gewinnt sogar dadurch an Kraft des Ausdrucks bedeutend; sie ist die einzige, bei der der Genuss mit der lebendigen Aufführung zusammenfällt..." (Über das Rheinische Musikfest, 1842).

 

   Eine Erkenntnis, die auf seinem intensiven emotionalen Musik-Erleben in Bremen basiert, wo sich aber sein analytischer Verstand nun gleichzeitig dafür zu interessieren beginnt, die Technik der musikalischen Wirkung in der eigenen Praxis zu ergründen: Er beginnt zu komponieren. Seine ersten Versuche in dieser Richtung vertraut er seiner Lieblingsschwester Marie Engels, welche eine gute Klavierspielerin ist (und später den Kommunisten Emil Blank heiraten wird) in seinen Briefen, immer versehen mit eigenen handnotierten Notenexempeln, schon in seinem ersten Bremer Jahr 1838 an:

   "Ich will Dir erzählen, dass ich jetzt am Komponieren bin, und zwar mache ich Choräle. Es ist aber entsetzlich schwer, der Takt und die Kreuzer und die Akkorde machen einem sehr viel zu schaffen. Bis jetzt habe ich es noch nicht weit gebracht, aber ich will Dir doch eine Probe hersetzen. Es sind die beiden ersten Zeilen von Ein' feste Burg ist unser Gott. Weiter hab' ichs noch nicht bringen können als zweistimmig, vierstimmig ist noch zu schwer. Ich hoffe, ich werde keinen Schreibfehler gemacht haben, und so probier Du einmal, das Ding zu spielen."

 

   Die Vorlage besagten "Dings" ist jenes Reformationslied von Martin Luther, welches zum Bekenntnis des protestantischen Glaubens schlechthin wurde, welches Heinrich Heine in seiner "Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" 1834 als "Marseiller Hymne der Reformation" tituliert, was Friedrich Engels später konstatieren lässt:

   "Die Marseillaise der Bauerkriege war: Ein feste Burg ist unser Gott".

Und in seinen Fragmenten zur "Dialektik der Natur" führt er aus:

   "Luther fegte nicht nur den Augiasstall der Kirche, sondern auch den der deutschen Sprache aus, schuf moderne deutsche Prosa und dichtete Text und Melodie jenes siegesgewissen Chorals, der die Marseillaise des 16. Jahrhunderts wurde."

 

   Ob Engels' zweistimmiges "Ding" je fertig komponiert, oder später, wie intendiert, tatsächlich von ihm noch vierstimmig gesetzt wurde, ist leider nicht überliefert. Belegt ist hingegen durch einen kurz darauffolgenden zweiten Brief an Marie, dass er für das Komponieren offensichtlich Feuer gefangen hat und sich, trotz aller Mühen, nicht entmutigen lässt:

   "Hör einmal, das Komponieren, das ist eine schwere Sache, da muss man auf so vielerlei achtgeben, auf Harmonie der Akkorde und richtige Fortschreitung, das macht viel Mühe. Ich will abermals sehen, ob ich Dir nächstens nicht wieder was schicke. Ich bin jetzt dran, einen Choral zu komponieren, da wechselt in der Singstimme Bass und Sopran ab. Pass mal auf. Die Begleitung fehlt noch, wahrscheinlich werde ich auch noch einzelnes verändern." Weiterhin bleibt also "Das Singen und Komponieren... in steter Übung", wie Engels auch seinem jüngeren Bruder Hermann versichert.

 

   Hält man die überlieferten Dokumente aus der Bremer Zeit für aussagekräftig, so muss man feststellen, dass in den insgesamt 46 erhaltenen Briefen, vorwiegend an Schwester Marie, von denen immerhin 12 die Musik zum Thema haben, die musikalische Analyse nun immer öfter und immer größeren Raum einnimmt. Auch einem Schulfreund schreibt er darüber:

   "Dass ich aber über dem Neuen das Alte nicht vergesse, zeigt mein Studium der gottvollen Goetheschen Lieder. Man muss sie aber musikalisch studieren, am besten in verschiedenen Kompositionen. Z.B. will ich Dir die Reichhardtsche Komposition des Bundeslieds hersetzen... Die Melodie ist herrlich und durch die stets im Akkord sich haltende Einfachheit dem Liede so angemessen wie keine. Herrlich macht sich das Steigen V.6 von e bis zur Septime d und das rasche Fallen V.8 von h bis zur None a. Über das 'Miserere' von Leonardo Leo werde ich dem Heuser schreiben."

   Für besagten Komponisten Gustav Heuser wird Friedrich Engels später sogar ein Opernlibretto mit dem Titel "Cola di Rienzi" verfassen, welches allerdings nur ein Fragement bleiben wird. 

 

   Mittlerweile versiert im Lesen von Partituren, möchte Engels sich auch selbstständig sein eigenes Urteil über die Kompositionen anderer bilden. Und so bittet er seine Schwester:

   "Bei dem Stabat mater dolorosa et cetera fällt mir ein, sieh doch einmal zu, ob dieses Ding von Pergolesi komponiert ist. Ist es das, so schaffe mir wo möglich eine Abschrift der Partitur... Übermorgen führen wir den 'Paulus' von Mendelssohn auf, das beste Oratorium, was seit Händels Tode geschrieben worden ist."

 

   Wenig später erneuert Engels seiner Bitte betreffend die Übersendung des Stabat mater: "Dass das 'Stabat mater' von Pergolesi ist, hab' ich mit Vergnügen erfahren; Du musst mir jedenfalls eine Kopie des Klavierauszugs mit allen Stimmen schaffen und zwar so, dass das gleichzeitig Gesungene und Gespielte übereinander steht wie in einem Opernklavierauszuge. Eins hast Du doch weniger als ich, Du kannst heute, Mittwoch, den 10ten März, nicht Beethovens c-moll Symphonie hören, und ich doch. Diese und die Sinfonie eroica sind meine Lieblingsstücke. Exerzier Dich nur ja recht ein, Beethovens Sonaten und Symphonien zu spielen, damit Du mir nachher keine Schande machst. Ich höre sie aber nicht im Klavierauszug, sondern von vollem Orchester. /den 11ten März."

 

   Trotz aller analytischen Bemühungen bewahrt er sich seinen emotionalen Zugang zur Musik, wenn ihn das Gehörte mitreißt: "Das ist gestern Abend eine Symphonie gewesen! So was hast Du in Deinem Leben noch nicht gehört, wenn Du dieses Prachtstück noch nicht kennst. Diese verzweiflungsvolle Zerrissenheit im ersten Satze, die elegische Wehmut, diese weiche Liebesklage im Adagio und dieser gewaltige, jugendliche Posaunenjubel der Freiheit im dritten und vierten Satze!..."

 

   Seine Geschmacksbildung, sein entwickeltes Urteilsvermögen und, darauf begründet, seine leidenschaftliche Liebe zu den anspruchvollen Kompositionen eines Händel, Bach, Gluck, Beethoven oder Mendelssohn in deutscher Musiktradition, können ihn aber auch in einen beißend-humorigen Satiriker verwandeln, wenn er sein musikalisches Ohr als beleidigt empfindet, wie seine Schilderung in der Fortsetzung des Briefes an Marie zeigt:

   "Ausserdem hat sich gestern noch ein jämmerlicher Franzose hören lassen, der sang sein Ding, das ging so: (es folgt ein rhythmisch sehr differenziert ausgeschriebenes Notenbeispiel)... und so weiter, keine Melodie und keine Harmonie, ein jämmerlicher französischer Text, und der ganze Witz war tituliert 'L'Exilé de France'. Wenn alle aus Frankreich Verbannten ein solches Katzengewinsel erheben, so wird man sie nirgends haben wollen. Auch sang der Flegel ein Lied: Le toréador, d.h. der Stierfechter, wo alle fingerlang der Refrain vorkam: Ah que j'aime l'Espagne! Dieser war womöglich noch erbärmlicher und ging ebenso bald in Quintensprüngen, bald in chromatischen Gängen sich krümmend, als wenn's ein Bauchweh bedeuten sollt. Wär' nicht zum Schluss die prachtvolle Symphonie gekommen, so wär' ich weggelaufen und hätt' den Raben krächzen lassen, denn er hatt' einen erbärmlich dünnen Bariton."

 

                                                  Berlin

 

   Im Herbst 1841 verpflichtet sich Engels, nach Beendigung seiner kaufmännischen Lehre, als Einjährig-Freiwilliger zum Artillerieregiment nach Berlin, denn nur so kann er ohne den eigentlich erforderlichen gymnasialen Abschluss die Vorlesungen an der Universität besuchen. Die Opernbesuche hingegen werden ihm durch mangelnde Qualität verleidet.

 

   "Das hiesige Theater ist sehr schön, ausgezeichnete Dekorationen, vortreffliche Schauspieler, aber meist schlechte Sänger. Deswegen geh' ich auch selten in die Oper", schreibt er 1842 seiner Schwester Marie. Und in einem anderen Brief findet er, ungerührt von den pianistischen Qualitäten des Virtuosen Franz Liszt, nur Spott für den hysterischen Starkult, den die Berliner Damenwelt um den Künstler betreibt.

 

   Nach langer Pause verfasst Engels nun wieder einen Zeitungsartikel über Musik: Am 14. Mai 1842 erscheint sein Bericht über das Niederrheinische Musikfest in der "Rheinischen Zeitung". Dieses Festival fand alljährlich zu Pflingsten abwechselnd in verschiedenen Städten statt. Werke bedeutender Komponisten wie Mendelssohn oder Schumann, welche dort auch als Dirigenten und als Festspielleiter in Erscheinung traten, gelangten hier zur Uraufführung. Darüber hinaus gab es bedeutende deutsche Erstaufführungen, so Händels englische Oratorien in deutscher Sprache oder die 9. Sinfonie von Beethoven.

 

   Der Artikel, aus dem oben schon zwei Passagen zitiert wurden, ist es Wert, in Folgendem als Ganzes wiedergegeben zu werden. Finden wir hier doch, trotz all seiner zwischenzeitlichen politischen Aktivitäten, Engels poetische, musikliebende, gesellige, begeisterungsfähige, aber auch analytische Ader früherer Tage wieder:

  

   "Berlin, den 6.Mai [1842]. Es gibt gewisse Zeiten im Jahre, wo den Rheinländer, der sich in der Fremde herumtreibt, eine ganz besondere Sehnsucht nach seiner schönen Heimat ergreift. Diese Sehnsucht stellt sich namentlich im Frühling, um die Pfingstzeit, die Zeit des rheinischen Musikfestes, ein und ist ein ganz fatales Gefühl. Jetzt, das weiss man leider nur zu genau, jetzt wird es grün am Rhein; die durchsichtigen Wellen des Stromes kräuseln sich im Lenzhauch, die Natur zieht ihr Sonntagskleid an, und jetzt rüsten sie sich zuhause zur Sängerfahrt, morgen ziehen sie aus und du bist nicht dabei. Es ist ein schönes Fest, das rheinische Musikfest!...

   Alles bereitet sich zur Pfingstfeier vor und würdiger kann ein Fest, das von allgemeiner Ausgießung des heiligen Geistes sich herleitet, nicht gefeiert werden, als durch Hingabe an den göttlichen Geist der Freude und des Lebensgenusses, dessen innersten Kern eben der Kunstgenuss bildet. Und von allen Künsten eignet sich keine so sehr dazu, den Mittelpunkt eines solchen geselligen Provinziallandtages zu bilden, wo alle Gebildeten der Umgebung zu gegenseitiger Auffrischung des Lebensmutes und der jugendlichen Fröhlichkeit sich zusammenfinden als gerade die Musik.

   ...was bei den Panathenäen und Bacchosfesten das Volk anzog, so kann dem bei unseren klimatischen und sozialen Verhältnissen nur die Musik entsprechen. Denn, wie uns die bloss gedruckte, nicht zum Gehör sprechende Musik keinen Genuss gewähren kann, so blieb den Alten die Tragödie tot und fremd, solange sie nicht von der Thymele und Orchestra durch den lebendigen Mund der Schauspieler redete.

   Darum kann das Drama keinen Mittelpunkt grosser Versammlungen mehr abgeben, eine andere Kunst muss aushelfen, und das kann nur die Musik; denn sie allein lässt die Mitwirkung einer grossen Menge zu und gewinnt sogar dadurch an Kraft des Ausdrucks bedeutend; sie ist die einzige, bei der der Genuß mit der lebendigen Ausführung zusammenfällt, und deren Wirkungskreis an Umfang dem des antiken Dramas entspricht.

   Und wohl mag der Deutsche die Musik, in der er König ist vor allen Völkern, feiern und pflegen, denn wie es nur ihm gelungen ist, das Höchste und Heiligste, das innerste Geheimnis des menschlichen Gemüts aus seiner verborgenen Tiefe ans Licht zu bringen und in Tönen auszusprechen, so ist es auch nur ihm gegeben, die Gewalt der Musik ganz zu empfinden, die Sprache der Instrumente und des Gesanges durch und durch zu verstehen.

   Aber die Musik ist dabei nicht Hauptsache. Was denn? Nun, das Musikfest. Sowenig das Zentrum einen Kreis bildet ohne Peripherie, so wenig ist die Musik dabei irgendetwas, ohne das fröhliche gesellige Leben, das die Peripherie zu diesem musikalischen Zentrum bildet..."

 

   Ein gewisser Karl Marx hatte gerade, nur 8 Tage zuvor, in eben dieser "Rheinischen Zeitung" seinen ersten politischen Artikel mit dem Titel "Debatten über Preßfreiheit und Publikationen der landstädtischen Verhandlungen" veröffentlichen können, als Friedrich Engels' auf den ersten Blick so harmlos anmutende, romantisch-schwärmerische Betrachtung über die Festtage der Musik erschien. - Wer hätte gedacht, (Marx offensichtlich nicht, da er jenem Schreiber kurze Zeit später bei dessen Kölner Redaktionsbesuch ignoriert haben soll), dass Engels ungewöhnlich lockere, musisch-sinnliche und im wahrsten Sinne des Wortes "synergetische" Annäherung an Themen schon bald  in ihrer einzigartigen lebenslangen Zusammenarbeit und Freundschaft einmal nützlich, ja sogar unverzichtbar, werden würde?!

  

   Friedrich Engels Jahre zwischen 1842 und 1850 waren bestimmt von politischen Reden, Reisen, Recherchen und Revolutionen und so blieb für das Thema Musik, soweit bekannt, keine Zeit. Denn wie er in dem Vorwort zu seiner 1845 publizierten, bahnbrechenden Analyse "Zur Lage der arbeitenden Klasse in England", die ihm großen Respekt ins ganz Europa, (jetzt natürlich auch von Marx!), eintrug, mit eigenen Worten erklärt:

   "Ich verzichtete auf die Gesellschaft und die Bankette, den Portwein und den Champagner der Mittelklasse und widmete meine Freistunden fast ausschliesslich dem Verkehr mit einfachen 'Arbeitern'; ich bin froh und stolz zugleich, so gehandelt zu haben."

 

 

Manchester

 

   Ab 1850 fungiert Engels nun tagsüber für 19 Jahre als Vertreter und später Teilhaber in der Fabrik seines Vaters in Manchester. Einen Grossteil seiner verbleibenden freien Zeit nehmen die umfangreichen wissenschaftlichen Recherchen mit Marx zum "Kapital" und seine fortgesetzten praktischen Studien im Arbeitermilieu in Anspruch. Und so findet er offensichtlich keine Muße mehr, Musik selbst zu praktizieren, wie noch in Bremen, oder über sie zu schreiben, wie noch von Berlin aus.

 

   Manchester und seine neue gesellschaftliche Position bieten Engels jedoch andere Berührungsmöglichkeiten in Sachen Musik durch seine "standesgemässen" Mitgliedschaften in diversen kulturellen Institutionen, wie z.B. dem Albert Club, dem Athenaeum oder der Manchester Foreign Library, und ganz besonders der Schiller Anstalt: Anlässlich der Festlichkeiten im Jahre 1859, zum 100sten Geburtstag von Friedrich Schiller, erklingt in der Free Trade Hall, neben Lesungen aus dem Werk des Dichters, auch Musik von Beethoven, Mendelssohn und Mozart (genau jenen von Engels enthusiastisch verehrten Komponisten aus den zitierten Bremer Jugendbriefen an die Schwester), deren musikalische Leitung der in England berühmte Pianist und Dirigent Charles Hallé inne hatte. 

 

   In der an jenes Fest anschliessenden Versammlung wird Friedrich Engels Gründungsmitglied der Schiller Anstalt, später in dessen Direktorium berufen und von 1864-1868 sogar ihr Präsident. Charles Hallé, seit 1850 bereits Leiter der "Gentlemen’s Concert" und des Cäcilien Vereins, wird 1860 als Vizepräsident aufgeführt und kann nun sein "Hallé-Orchester" mit wöchentlichen(!) Konzerten in Manchester etablieren.

 

   Doch die doppelte Dauerbelastung des Milieu-Spagats zehrt schlussendlich an Engels Kräften. 1867 schreibt er an Marx, der soeben mit dem ersten Band des "Kapitals" fertig geworden ist:

 

   "Ich sehne mich nach nichts mehr als nach Erlösung von diesem hündischen Commerce, der mich mit seiner Zeitverschwendung vollständig demoralisiert."

 

London

 

   Schon 2 Jahre später erlöst sich Friedrich Engels selbst, indem er sich seinen Anteil an der Firma in Manchester auszahlen lässt und 1869 nach London umzieht. Hier nun beginnt für ihn endlich das langersehnte Leben als freier Mann, und aus dessen Brief an seine Mutter tatsächlich wieder der frühere junge Engels herausklingt:

 

   "Heute ist der erste Tag meiner Freiheit. Ich bin seit gestern ein ganz andrer Kerl, & zehn Jahre jünger: Statt in die düstre Stadt ging ich heute morgen bei dem wunderschönen Wetter ein paar Stunden in die Felder & an meinen Schreibtisch, in einem comfortabel eingerichteten Zimmer, wo man die Fenster öffnen kann, ohne daß der Rauch überall schwarze Flecken macht, mit Blumen im Fenster & ein paar Bäumen vor dem Hause."

 

   Im selben Jahr seiner neuerworbenen Freiheit unternimmt er mit seiner irischstämmigen Lebensgefährtin und späteren Ehefrau Lizzy Burns und Eleanor, Marx‘ jüngster Tochter, eine Reise nach Irland zwecks Recherchen für sein neues (leider nicht vollendetes) Buchprojekt: die "Geschichte Irlands". Wozu er sogar gälisch lernt. Und innerhalb seiner über ein Dutzend hinterlassenen Notizhefte mit Anmerkungen zu Wirtschaft, Rechtssystem und Geografie tut sich eine weitere Seite des Musikliebhabers Engels auf: Er plant eine Sammlung irischer Lieder! So konzipiert er am 5. Juli 1870 bereits ein Vorwort dazu:

    "Von den irischen Volksmelodien sind einige uralt, andere in den letzten 300-400 Jahren entstanden, manche erst im vorigen Jahrhundert; besonders hat damals einer der letzten irischen Barden, Carolan [Turlough O’Carolan, 1670-1738], viele erfunden…. Diese Barden und Harfner – Dichter, Komponisten und Sänger in einer Person – waren früher zahlreich", schreibt er, doch bald wurden sie "verfolgt von den Engländern…"

 

   Und die frühere Faszination von Ritterepen, mit denen ihn sein geliebter Grossvater mütterlicherseits als Kind vertraut machte, klingen in der Fortsetzung an: "… Die alten Lieder von der Herrlichkeit des alten Königspalastes Tara, von den Heldentaten König Brian Borumhas, die späteren Lieder von den Kämpfen irischer Häuptlinge gegen Sassanach (Engländer) wurden von diesen Barden im lebenden Gedächtnis der Nation erhalten…" Und er stellt augenscheinlich bewegt fest: "…das schönste Vermächtnis, das sie ihrem geknechteten, aber unbesiegbaren Volk hinterlassen haben, sind ihre Melodien…." Und wieder analytischer: "Die Schwermut, die in den meisten dieser Melodien herrscht, ist auch heute noch der Ausdruck der nationalen Stimmung…"

 

   Wusste Engels um das soziale Engagement des von ihm so geschätzten Komponisten G.Fr. Händel, der fast 130 Jahre zuvor, 1742, sein Oratorium "Messiah" bewusst in Dublin, und zugunsten von Schuldgefangenen und Armenkrankenhäusern uraufführte? Und: Kannte Engels vielleicht sogar Händels Skizze zur Amen-Schlussfuge, hinter welcher Händel ganz unvermittelt  eine irische Tanzmelodie notiert und dazu vermerkt: "Ballet – D' arme irische Junge".

 

   Engels lebte nun die nächsten 25 Jahre, bis zu seinem Tod, am grünen Rande dieser Weltstadt, die durch mehrere große Opernhäuser und riesige Konzerthallen ein breites Musikangebot bereithielt, nicht zu vergessen die Promenadenkonzerte, deren geselliger Charakter an das Niederrheinische Musikfest aus seinem früheren Artikel von 1842 erinnert.

 

   Dieses grosse kulturelle Angebot wurde über viele Jahre hinweg sonntags auch noch durch eine kleinere musikalische Darbietung im Hause Engels bereichert: Wenn der Hausherr dort seinen "Tag der offenen Tür" abhielt, zu dem jeder politisch, kulturell, kulinarisch und an Maibowle Interessierte eingeladen war, und der Gastgeber Engels höchstpersönlich, wie August Bebel zu berichten weiss, das Lied vom "Vicar of Bray" als späte Zugabe anstimmte!

   Nicht von ungefähr. Hatte er dieses satirische Lied doch, aufgrund der Thematik um einen klerikalen Wendehals, fürs  Deutsche nachgedichtet, im "Der Sozialdemokrat" 1882 veröffentlicht und im Nachwort vermerkt:

    "Das obige Lied ist wohl das einzige politische Volkslied, das sich in England seit mehr als hundertsechzig Jahren in Gunst erhalten hat. Es verdankt dies grossenteils auch seiner prächtigen Melodie, die noch heute allgemein gesungen wird…"

 

   Zu den musikalischen und gesellschaftlichen Höhepunkten Londons gehörten damals auch die im Crystal Palace stattfindenden Händelfestspiele. Dabei wurde 1888 der Schlusschor aus Händels Oratorium "Israel in Egypt" mit dem von Edison erfundenen Phonographen aufgezeichnet. (Diese Aufnahme gilt heute als überhaupt ältestes erhalten gebliebenes Tondokument von Musik!)

   Sechs Jahre später stellt dieses Musikfest um den von Engels seit Jugend an geschätzten Komponisten, Aufklärer und Menschenrechtler Georg Friedrich Händel, den Anlass dar für die letzte uns überlieferte Erwähnung von Musik aus Engels Feder. Im Juni 1894, ein Jahr vor seinem Tod, berichtet er Karl Kautsky von einem Konzertbesuch in Begleitung von Louise Kautsky-Freyberger, Karl Marx' jüngster Tochter Eleanor und ihrem Lebensgefährten Eward Aveling (dem englischen Mitübersetzer des "Kapitals" Band 1), für welchen er eigens seine Arbeit unterbrochen hat:

 

   "Der Artikel zur Geschichte des Urchristentums... ist in Arbeit und well advanced. Aber gestern war Händelfest im Krystallpalast, und da waren Louise  und ich mit den Avelings den Messias hören."

 

   Friedrich Engels persönliche dichte Beziehung zur Musik hatte lange Zeit keinen Stellenwert, da sie sich schwerlich in das geschaffene Bild einordnen ließ. Ganz anders aber seine vielstrapazierte Musikmetapher, mit welcher er seinen Anteil an der Zusammenarbeit mit Marx für die Nachwelt definieren wollte:

   "Ich habe mein Leben lang das getan, wozu ich gemacht war, nämlich zweite Violine spielen, und glaube auch, meine Sache ganz passabel gemacht zu haben. Und ich war froh, so eine famose erste Violine zu haben wie Marx", schreibt er 1884 an seinen Freund J.S. Becker.

 

  

    Dass sich Engels im Duo mit Marx bescheiden als "zweite Violine" bezeichnet, muss allerdings nun eingedenk seiner aufgezeigten musikalischen Vorlieben irritieren und zwangsläufig die abschließende Frage aufwerfen: An welche Art von zweiter Violine, und vor allem, an welche Art von Musik, mag er bei dieser Metapher denn gedacht haben? Etwa an die homophone Musik, in der die 1. Violine alleinig als Melodieinstrument führend hervortritt und alle anderen Instrumente, natürlich auch die 2. Violine, sich dieser begleitend unterzuordnen haben (wie z.B. im Wiener Walzer), oder insgeheim doch wohl eher an die polyphone Musik? Wie etwa in Bachs Doppelkonzert für 2 Violinen und Orchester, worin die 2. Violine thematisch-melodisch mit der 1. Violine gemeinsam am Gesamtwerk beteiligt ist. Nur in einer anderen Tonlage. Aber in völliger Gleichberechtigung.

 

 

Quellen:

- Marx-Engels-Werke, Dietz Verlag Berlin

- Johanna Rudolph (Ps., eigentl. Marianne Gundermann): "Händelrenaissance - Händels Rolle als Aufklärer, Aufbau Verlag 1969

- Mark Lindley: "Marx and Engels on Music", by Mark Lindley 2010

 

  * www.helmut-timpelan.de   

** www.evelyn-jl-puefken.de

 

Auf Helmut Timpelans Webseite finden sich auch Scans von Originalhandschriften der Kompositionen Friedrich Engels

 

 

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