US-Veteranen – Arbeitslosigkeit, Trauma und Selbstmord

Schriftstellerin Ann Jones im Gespräch mit Amy Goodman (Democracy now!)
Video: 
Democracy now!
Länge: 
00:14:16
Personen: 
Übersetzung: Doris Pumphrey, weltnetz.tv

Die Selbstmordrate bei männlichen US-Veteranen ist laut einer Studie gestiegen. Ebenfalls deutlich zugenommen haben die Selbstmorde bei Frauen, die beim Militär gedient haben, so teilte das Kriegsveteranen-Ministerium am Donnerstag mit.
Viele dieser Soldatinnen und Soldaten meldeten und melden sich „freiwillig“ zum Militärdienst, weil sie zuhause zur Armee der Arbeits- und Chancenlosen gehören und die Pentagon-Propaganda ihnen eine bessere soziale Zukunft in Aussicht stellt. Viele von ihnen kehren mit körperlichen und seelischen Verwundungen zurück in die Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Letztes Jahr starben mehr aktive Soldaten durch Suizid als im Afghanistaneinsatz. Und die Zahl der Selbstmorde steigt dramatisch: Durchschnittlich 22 Soldaten begehen in den USA jeden Tag Selbstmord.

Ein Beitrag von Democracy Now! vom 11. 11. 2013

Für das deutschsprachige Transkript des Interviews bitte auf "mehr" klicken.

AMY GOODMAN: Am Veteranentag, einem Nationalfeiertag, werden die Männer und Frauen, die in den US-Streitkräften gekämpft haben, geehrt. In seiner wöchentlichen Ansprache betonte Präsident Obama, dass US Amerikaner und ihre Regierung gegenüber den Veteranen verpflichtet sind.

PRESIDENT BARACK OBAMA: Die Rückkehr von mehr als einer Millionen Soldaten ins zivile Leben, verlangt von uns noch härtere Arbeit, denn Fähigkeit, Engagement und Mut unserer Truppen sind unübertroffen. Wenn sie nach Hause kommen, werden wir alle von ihrem Einsatz für ein stärkeres Amerika und eine bessere Zukunft für unsere Kinder profitieren. Im Namen der ganzen Nation sage ich deshalb Danke für alles was Ihr getan habt und weiterhin für unser Land tut. Als Euer Oberbefehlshaber bin ich stolz auf Euren Dienst und dankbar für Euer Opfer. So lange ich Euer Präsident bin, werde ich dafür sorgen, dass Amerika hinter Euch steht, nicht nur an einem Tag oder Wochenende, sondern an 365 Tage im Jahr. Danke.

AMY GOODMAN: Präsident Obama betonte die Bedeutung der Hilfe für die heimkehrenden Soldaten. Aber viele US-Kriegsveteranen erleiden extrem hohe Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, posttraumatische Belastungsstörungen und begehen Selbstmord. Seit 2000 mussten sich fast 6000 US Soldaten Amputationen unterziehen. Bei nahezu einer Million aktiven Soldaten wurde mindestens eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Laut des Department of Veteran Affairs begehen im Durchschnitt 22 aktive Soldaten pro Tag Selbstmord. Letztes Jahr begingen mehr US-Soldaten Selbstmord als ermordet wurden. 63.000 Kriegsveteranen sind obdachlos. Viele leiden unter chronischen psychischen Problemen.

Ich begrüße bei uns die Schriftstellerin und Fotografin Ann Jones. Ihr neuestes Buch trägt den Titel "Sie waren Soldaten: Wie die Verwundeten aus Amerikas Kriegen heimkehren – Die unerzählte Geschichte." Erzählen Sie uns die Geschichte.

ANN JONES: Die Geschichte, die fehlt, ist die Geschichte was mit Soldaten passiert, wenn sie im Krieg verwundet oder getötet werden. Wir hören so viel vom wunderbaren militärischen Gesundheitssystems, das ihnen helfen und ihr Leben retten soll. Wir hören aber nichts von den Auswirkungen der Verwundungen auf das medizinische Personal, das versucht Leben zu retten. Die Ärzte, Pfleger oder das andere Personal, die ich in den Krankenhäusern in Afghanistan, in Landstuhl in Deutschland oder ihm Walter Reed Krankenhaus traf, haben noch nie solch grauenhafte Verletzungen gesehen. Sie alle sind erfahren und versuchen zu retten so gut sie können. Aber sie fragen sich, ob diese Veteranen froh sein werden, dass sie noch leben, wenn sie nach Hause kommen.

AMY GOODMAN: Sie beginnen mit dem Kapitel "Geheimnis: Die Toten"

ANN JONES: 18 Jahre lang durften den Amerikanern keine Bilder von der Heimkehr toter Soldaten gezeigt werden. Das hatte Dick Cheney als Verteidigungsminister unter Bush Senior angeordnet. Diese Regelung wurde 2009 aufgehoben und Journalisten konnten mit Einwilligung der betroffenen Familien bei der Ankunft der Särge dabei sein. Aber da schienen die Amerikaner kaum mehr Interesse zu haben. Wir sind nicht gewohnt, das zu sehen und wollen es offensichtlich auch nicht sehen.

AMY GOODMAN: Erzählen Sie uns von einigen Beispielen, von Soldaten, die sich Ihnen anvertraut haben.

ANN JONES: Die meisten Soldaten, die ich in Afghanistan sah, waren bewusstlos, intubiert, mussten von einer OP zur nächsten, um sie zu stabilisieren, um zur nächsten Pflegestufe zu kommen.

AMY GOODMAN: Wie bekamen Sie Zugang?

ANN JONES: Ich musste mich in die Armee "einbetten" lassen und bekam einen Aufpasser. So konnte ich mir das alles ansehen. Mir wurde allerdings verboten mit den Soldaten zu sprechen, nachdem sie in Krankenhäusern in den USA angekommen waren. Ich erhielt Informationen von der Öffentlichkeitsabteilung und dem Krankenhauspersonal. Aber ich konnte mit Soldaten auf den Basen sprechen, bevor sie verwundet wurden oder wenn sie wieder zu Hause waren.

Die Soldaten und ihre Familien erzählten mir schreckliche Geschichten von Veteranen, die nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg jahrelang im Bett zuhause lagen und viele Geschichten von sorgenden Familien, die verzweifelt versuchten, Hilfe für ihre selbstmordgefährdeten Soldaten zu bekommen. Aber die VA, also die Veteranen Administration, ist mit den Veteranen aus den vorangegangenen Kriegen schon so überlastet, dass sie gar nicht mehr nachkommt. So werden Veteranen, die Soforthilfe brauchen, weggeschickt und oft endet das mit Selbstmord.

AMY GOODMAN: Die Zahl der Selbstmorde ist erstaunlich. Ich glaube, die Menschen können das gar nicht fassen: Durchschnittlich 22 US-Soldaten oder Veteranen begehen in den USA jeden Tag Selbstmord?

ANN JONES: Und hier geht es nur um die aktiven Soldaten. Möglicherweise ist die Selbstmordrate unter Veteranen höher. Was mich am meisten schockiert ist, dass so viele Soldaten Selbstmord begehen, obwohl sie in der VA behandelt werden. Aber dort werden ihnen gegen einfache Schmerzen Opioide, starke Drogen der großen Pharmaunternehmen, verschrieben. Die machen süchtig und haben viel mit dem Selbstmord von Soldaten zu tun.

Ich erzähle die Geschichte eines Soldaten aus Texas, der seelisch gestört aus dem Krieg zurück kam und dabei war die Armee zu verlassen, als er sich beim Fußballspiel mit Freunden einen Finger gebrochen hatte. Die VA verschrieb ihm gegen einen normalen, einfachen Schmerz ein starkes opioides Betäubungsmittel. Seine Mutter fragte den Arzt später, warum er ihm ein derartiges Medikament verschrieben habe, denn ihr Sohn wurde schnell süchtig und beging bald danach Selbstmord. Seine Mutter vermutet einen direkten Zusammenhang zwischen dem Selbstmord, der Droge und seinen Kriegserfahrungen.

AMY GOODMAN: Sie sind Tochter eines Veteranen. Wie hat diese Erfahrung Sie beim Schreiben ihrer Bücher beeinflusst? 

ANN JONES: Mein Vater war ein hoch dekorierter Veteran des 1. Weltkrieges. Er kam verwundet und mit all den Dämonen zurück, die seine Albträume nie mehr verließen.

AMY GOODMAN: Hatten Sie verstanden, was da vor sich ging?

ANN JONES: Ja und ich war oft das Objekt. Mein Vater war äußerlich ein erfolgreicher Unternehmer, guter Bürger und in der kleinen Gemeinde beliebt. Aber zuhause kamen die Dämonen aus ihm heraus. Deshalb traue ich den Statistiken des Pentagon überhaupt nicht, wenn das Pentagon uns erzählen will, dass nur ein Bruchteil der Veteranen mit großen Verhaltensstörungen nach Hause kommt, der Großteil aber ganz normal sei. Für jeden in der Gemeinde schien mein Vater völlig normal. Die Dämonen ließ er zuhause gegen die Familie los, wie so viele Veteranen das tun. Bis zu seinem Tod – er starb mit 80.

AMY GOODMAN: Was meinen Sie mit "Dämonen"?

ANN JONES: Seine Albträume, sein Gefühl von Schuld, Hilflosigkeit und die Enttäuschung, als unser Land auch weiterhin in den Krieg zog. Und oft brach das in Gewalt aus – gegen die Familienmitglieder.

AMY GOODMAN: Letztes Jahr sprach ich mit Aaron Hughes über die Probleme der Militärangehörigen. Er ist ein Veteran.

AARON HUGHES: Durchschnittlich begehen täglich 18 Veteranen Selbstmord in diesem Land. 17 Prozent der Soldaten in Afghanistan nehmen Psychopharmaka. 20 bis 50 Prozent der Soldaten in Afghanistan haben bereits PTBS, also post-traumatische Belastungsstörungen und sexuelle Traumata aus der Armee. Ein Drittel der Frauen im Militär werden sexuell missbraucht.

Die Politik des globalen Anti-Terror Krieges hatte große Auswirkungen auf die Soldaten und setzt eine gescheiterte Politik fort. Wir müssen täglich damit umgehen, aber wir wollen nicht mehr Teil sein dieser verfehlten Politik

AMY GOODMAN: Das war Aaron Hughes. Nach Pentagon-Berechnungen stieg die Zahl von sexuellen Nötigungen im Militär letztes Jahr um 46 Prozent. Zwischen Oktober und Juni gab es 3500 Fälle, verglichen mit 2400 im ganzen Jahr davor.

Das Pentagon meint, der Anstieg zeige nur, dass sich mehr Opfer melden. Aber sexuelle Nötigung ist immer noch dramatisch unterbelichtet. Eine andere Untersuchung ergab 26.000 Fälle sexueller Nötigung in 2011. Können Sie uns etwas über PTBS, Gewalt und sexuelle Nötigung in der Armee sagen, Ann?

ANN JONES: Ich möchte betonten dass – sexuelle Nötigung betreffend – wir jetzt an einem kritischen Moment sind. Der Kongress wird bald den Haushalt verabschieden und in diesem Rahmen bemühen sich Senator Gillibrand und einige andere Senatoren um die Verabschiedung eines Gesetzes, dass das Melden und die Verfolgung von sexueller Nötigung nicht länger in den Händen der Militärhierarchie lässt. Opfer melden sich ja oft deshalb nicht, weil sie sich bei denen melden müssten, die nicht selten die Angreifer waren.

PTBS ist so ein Etikett, das alles abzudecken und zu entschuldigen scheint. Gegenwärtig führt es aber auch dazu, dass Soldaten und Veteranen starke Medikamente verabreicht werden und das bezeichnet man dann als Behandlung. Aber viele haben mir erzählt: "Ich wurde nicht behandelt, sondern in ein Zombie verwandelt". Für das Pentagon ist das von Vorteil, denn die Veteranen werden so zum Schweigen gebracht, sie können uns nicht erzählen, was der Krieg für sie war. Wenn sie ihre Erlebnisse erzählen könnten und wir den Mut hätten ihnen zuzuhören, ich glaube, wir würden unsere Meinung ändern und der Exekutive nicht länger erlauben, diese Freiwilligen-Armee in Kriege zu treiben. Solange wir diese stehenden Streitkräfte haben, die unsere Demokratie korrumpieren, kann die Exekutive, wann immer sie will, damit in den Krieg ziehen. Weil wir keine wirklich demokratische Armee haben, gibt es auch keinen Widerstand seitens der Soldatenfamilien.

AMY GOODMAN: Sie meinen, wenn es eine Einberufung gäbe...

ANN JONES: … wenn es eine Einberufung gäbe und die Bevölkerung bei Kriegsvorbereitungen gefragt werden würde, dann würde unser Land nicht mehr so schnell in den Krieg ziehen. Ich habe kein Buch über Politik geschrieben. Aber wenn die Leute lesen, was der Krieg den eigenen Soldaten antut, in welchem Zustand sie heimkehren, dann ist das Buch eine einzige Anklage gegen den Krieg. Vielleicht werden Amerikaner wieder aufstehen und sich dem Krieg widersetzen.

AMY GOODMAN: Herzlichen Dank der Schriftstellerin und Fotografin Ann Jones. Ihr neuestes Buch trägt den Titel: "Sie waren Soldaten: Wie die Verwundeten aus Amerikas Kriegen heimkehren – Die unerzählte Geschichte."

Quelle: Democracy now!

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