Abbas fordert staatliche Anerkennung Palästinas

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Vorausgeschickt sei, dass die öffentlich-rechtlichen Sender am Abend des 16. August 2022 die gemeinsame Pressekonferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz  und Mahmoud Abbas, dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde, beschwiegen hatten. Nur private Sender erregten sich bereits darüber, dass Abbas ganz am Ende der Pressekonferenz auf die Frage eines Journalisten, ob er sich für das Attentat bei den Olympischen Spielen 1972 in München nicht entschuldigen wolle, antwortete, dass Israel seit 1947 „50 Massaker, 50 Holocausts“ in palästinensischen Orten“ verübt hätte. Obwohl Abbas dann selbst über die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa klarstellte, dass der an den Juden verübte Holocaust „das abscheulichste Verbrechen der modernen menschlichen Geschichte ist“ versteiften sich nun auch die öffentlich-rechtlichen Medien am folgenden und weiteren Tagen darauf, ihm die Leugnung der Singularität der Shoa zu unterstellen. Der eigentliche Inhalt der Pressekonferenz wurde weiterhin nicht verbreitet.  

Eigene Leiderfahrung mit dem Holocaust zu vergleichen oder sogar höher zu bewerten – ist außerhalb Deutschlands bei vielen Völkern üblich. Massenmorde, Deportationen und Genozide gab und gibt es leider reichlich. Wie in Charlotte Wiedemanns kürzlich erschienenem Buch ´Den Schmerz der anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis` nachzulesen, ist das außerhalb Deutschlands bei vielen Völkern üblich. Massenmorde, Deportationen und Genozide gab und gibt es leider reichlich. Sogar in den der EU angehörenden baltischen Staaten ist es immer noch schwierig, ein allgemeines Holocaust-Gedenken durchzusetzen. Viele Menschen stufen die während der sowjetischen Besatzung erfahrene Gewalt als schwerwiegender ein als die eigene Mitwirkung an der Ermordung baltischer jüdischer Bürger unter deutscher Besatzung.

Und erinnern wir uns: 1999 hatte Außenminister Joseph Fischer mit dem Slogan ´Nie wieder Auschwitz` die deutsche Beteiligung am Jugoslawienkrieg gerechtfertigt. Der Slogan wurde zwar kritisiert, aber diese Relativierung des Holocaust kostete ihn weder sein Ministeramt  noch seine Reputation in Israel, wo ihm 2002 die Universität von Haifa die Ehrendoktorwürde verlieh. Man hielt und hält Fischer zugute, dass er einem angeblich von Serbien geplanten Völkermord im Kosovo entgegentreten wollte. Hier diente die Beschwörung eines womöglich neuen Holocaust als magische Abwehrformel.  

Im Fall Abbas hatten die Medien wohl nur einen willkommenen Anlass gefunden, Geschichte und Gegenwart der israelischen Besatzungspolitik wieder einmal auszublenden, in der Massaker in palästinensischen Orten realiter stattfanden, ohne, dass jemals eine Entschuldigung dafür geleistet wurde. Von den immer noch auch von Vertreibung bedrohten Palästinensern zu erwarten, dass sie – quasi über Hitlers langem Arm – emotionslos die Folgen des Holocaust tragen, dürfte zu viel verlangt sein. Wie sollen gerade sie nachvollziehen, weshalb ihr Leben ausgerechnet von den Nachkommen der Opfer des Holocaust permanent eingeschränkt und gefährdet wird. 

Was wurde in der Pressekonferenz eigentlich verkündet? In seinem Statement bedankte sich Abbas überschwänglich für die humanitäre Hilfe, die Deutschland den Palästinensern zukommen lässt. Er dankte auch dafür, dass offiziell an der Perspektive der Zwei-Staatenlösung in den Grenzen von 1967 festgehalten und der Siedlungsbau in palästinensischen Gebieten verurteilt wird. Scholz bestätigte, dass seine Regierung diese  langjähriger deutscher Politik fortsetzen werde. Übereinstimmung herrschte auch im Bekenntnis zu einer in Verhandlungen zu erreichenden Friedenslösung. Gewaltfreiheit sei der wichtigste Grundsatz seiner Regierung, betonte Abbas mehrfach – ebenfalls überschwänglich.  

Er ging so weit, indirekt sogar die Möglichkeit einer Ein-Staaten-Lösung mit gleichen Rechten für Palästinenser und Israelis einzuräumen, von der allerdings zur Zeit nicht zu erwarten sei, dass Israel sie akzeptieren würde. Gegenwärtig stehe nur ein „Apartheid-Staat“ in Aussicht, weshalb den Palästinensern nichts anderes übrig bliebe, als einen eigenen zweiten Staat anzustreben. Vom Begriff der Apartheid distanzierte sich Scholz im Namen der deutschen Israel-Politik.  

Abbas sprach auch von der Vorbereitung der von Scholz angemahnten palästinensischen Wahlen. Hier sei ergänzt, dass die Palästinenser diesen Wahlen durch die im Juli in Algier besiegelte Versöhnung von Fatah und Hamas einen wichtigen Schritt näher gekommen sind. Ein weiteres Indiz, dass sich Hamas auf eine in erster Linie politische Rolle vorbereitet, war ihre Zurückhaltung bei Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensergebieten Anfang August. Allerdings wird das Abhalten von palästinensischen Wahlen auch von Israel behindert, weil es die Teilnahme der Bürger des annektierten Ostjerusalem blockiert.  

Obgleich Abbas klar sein dürfte, dass die von ihm vielgelobte deutsche Politik rein verbaler Natur ist und keine praktischen Folgen zeitigt, stellt ihr Beharren auf Positionen des Osloer Abkommens für die palästinensische Seite einen Wert auf der politischen Weltbühne dar, z. B. bei Abstimmungen in der UNO. In multilateralen Friedensbemühungen könne Deutschland eine Schlüsselrolle spielen, wünschte sich Abbas, womit er jedoch eher auf Möglichkeiten als auf Realitäten anspielte. Die USA hätten von den 700 in der UNO und den 90 im Sicherheitsrat zugunsten der Palästinenser eingebrachten Resolutionen bislang keine unterstützt. Wo bleibe eine amerikanische Friedensinitiative? In der wohl illusorischen Hoffnung, dass Deutschland – gemäß seiner proklamierten Politik – aktiver werden könnte, lud Abbas Scholz zu einem Besuch der Autonomiegebiete ein. 

Er kündigte an, demnächst in der UNO aufzutreten und zu fordern, dass alle Staaten, die Israel anerkennen, auch einen palästinensischen Staat anerkennen sollten. Das käme der Proklamation eines palästinensischen Staates gleich, die Jassir Arafat am Ende seiner Regierungszeit ebenfalls in Erwägung gezogen hatte. Sie nicht umgesetzt zu haben, war wohl sein größter politischer Fehler. 

Die Pressekonferenz barg also weitaus mehr realpolitischen Sprengstoff als der Holocaust-Ausspruch von Abbas. Politiker und Medien, die Kanzler Scholz beschuldigten, darauf nicht sofort angemessen reagiert zu haben, zielten in Wirklichkeit auf einen Dammbruch der deutschen Nahost-Politik. Sie soll sich auch verbal vom Ziel palästinensischer Emanzipation verabschieden.   

Und was Entschuldigungen betrifft – so können sie nur Teil eines umfassenden Friedensprozesses sein, in dem es zu gegenseitigem Verzeihen für das Leid kommt, das sich Juden und Palästinenser angetan haben und weiterhin antun.